Dagestan: Neue Generation von Extremisten
26. Juni 2024Schockierende Bilder von Toten, Videos von Schießereien, Aufnahmen von schwerem Gerät und eine niedergebrannte Synagoge. Bei den Terroranschlägen islamistischer Terroristen in Machatschkala und Derbent am 23. Juni 2024 kamen mindestens 20 Menschen ums Leben, die meisten davon Polizisten. Weitere 46 Personen wurden teils schwer verletzt. Ziel der Anschläge in Derbent waren eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge sowie in der Hauptstadt Machatschkala ebenfalls eine Kirche und ein Polizeiposten in der Nähe einer Synagoge. Am 24. Juni wurde in Dagestan, einer Teilrepublik der Russischen Föderation, eine dreitägige Trauer ausgerufen. Inzwischen laufen Untersuchungen der Anschlagsserie.
Terrorismus gegen Christen und Juden
"Die Angriffe waren islamistischer Natur", sagt der Nordkaukasus-Experte Harold Chambers von der Indiana University (USA). Gleichzeitig gehe es ihm zufolge um Antisemitismus sowie antichristliche und politische Gesinnungen. "Inzwischen ist bekannt, dass der Vater und Onkel der drei Angreifer Mitglied der Regierungspartei 'Einiges Russland' war. Dass es ein islamistischer Terroranschlag war, zeigt auch, dass die Täter Verse aus dem Koran an den Türen der Synagoge hinterlassen haben, auf die sich normalerweise Dschihadisten beziehen", so Chambers im Gespräch mit der DW.
Eine Synagoge als Angriffsziel überrascht Chambers angesichts der Ereignisse des vergangenen Herbstes nicht. "Ich meine die antisemitischen Ausschreitungen am internationalen Flughafen Machatschkala. Dass öffentliche Unzufriedenheit und Gewaltpotenzial besteht, ist in weiten Teilen der Gesellschaft zu beobachten", sagt er.
Antisemitische Ressentiments in dieser Kaukasusregion würden jedoch jeglicher Logik zuwiderlaufen, meint die Dagestan-Expertin und Journalistin Elke Windisch, denn ihrer Einschätzung nach hat sich die jüdische Gemeinde, die einst in Dagestan existierte, die Republik praktisch verlassen.
Behörden sprechen von ukrainischer Spur
Der Ableger der Terrorgruppe Islamischer Staat in Afghanistan, "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK, auch ISIS-K), lobte die Täter der Terroranschläge in Dagestan. Die Erklärung erschien in sozialen Netzwerken auf Profilen, die mit der russischen Zelle der Gruppe verbunden sind. Unterdessen brachte das Oberhaupt von Dagestan, Sergej Melikow, die Terroranschläge in der Region mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung. Er sagte, dass "der Krieg zu uns nach Hause gekommen ist".
Beobachtern zufolge sind aber die Versuche, den islamischen Terrorismus mit der Ukraine in Verbindung zu bringen, wenig überzeugend. "Dass diese ganze Geschichte eine ukrainische oder amerikanische Spur hat, wird natürlich nur eine Minderheit glauben. Die Mehrheit weiß, dass es den Islamismus als Faktor unabhängig vom Westen gibt. Verüben Islamisten etwa im Westen keine Terroranschläge? Man muss sich nur an den 11. September erinnern", so der russische Politologe Abbas Galljamow im DW-Gespräch.
Neue Generation islamischer Radikaler
Experten sagen, dass die russischen Behörden selbst eine Mitschuld an der Zunahme islamistischer Stimmungen im Nordkaukasus tragen. Einerseits nimmt die Willkür der Behörden zu und andererseits tragen die Behörden zur Stärkung archaischer Gesellschaftsmodelle bei, was zu verstärktem Islamismus unter Muslimen führt, glaubt Abbas Galljamow. "Der Staat selbst schafft die Voraussetzungen dafür, er trägt nicht zur Modernisierung der Gesellschaft bei, er wirkt archaisierend auf die Gesellschaft - und der Islamismus ist eine Form des Archaismus", sagt Galljamow.
Laut Harold Chambers unterdrückten die Behörden jegliche Versuche öffentlicher Aktivität, "sogar zur Unterstützung des Regimes". Dieses Verbot öffentlicher Betätigung führt seiner Meinung nach dazu, dass "der einzige Ort, wo man wirklich etwas unternehmen kann, das Internet ist. Aber dort trifft man eher auf radikale Akteure", warnt der Experte.
Chambers zufolge ist im Nordkaukasus eine neue Generation islamischer Radikaler entstanden. "Sie kennen die Sowjetunion nicht mehr. Sie erleben eine Zeit der relativen religiösen Wiederbelebung und Freiheit, obwohl sie als Muslime im Nordkaukasus natürlich nicht ganz frei sind. Ihr Denken ist deutlich anders", betont Chambers. Nationalismus überschneide sich bei radikalen Menschen viel häufiger mit Religion.
Hohes Potenzial für Unzufriedenheit
Dagestan ist eine der ärmsten Regionen der Russischen Föderation. Laut Elke Windisch gibt es trotz hohem Wirtschaftspotenzial und der Chance auf einen guten Lebensstandard, "manchmal nicht mal Wasseranschlüsse, obwohl genug Wasser vorhanden ist". Windisch weist zudem darauf hin, dass Dagestan die religiöseste Republik im Nordkaukasus ist. Gleichzeitig würden in der Republik, in der Vertreter von bis zu hundert ethnischen Gruppen leben, seit Jahrzehnten interethnische Konflikte schwelen.
Daher hält Windisch die Praxis Moskaus für problematisch, Führungspositionen in Dagestan nicht mit Vertretern der lokalen Eliten zu besetzen, sondern eigene Schützlinge in die Regionen zu schicken, wie den jetzigen Chef der Republik Sergej Melikow. "Ihm traut man nicht zu, die Verästelung der ganzen Situation in Dagestan bis ins kleinste Detail zu erkennen, um die richtige Entscheidung zu treffen", so Windisch. Für die Einheimischen seien solche Vertreter "Fremdkörper".
Doch Windisch ist zuversichtlich, dass der Schock der jüngsten Terroranschläge wieder vergehen wird. "Ich glaube, man wird zur Tagesordnung zurückkehren. Es bleibt dann aber immer die Gefahr bestehen, dass es bei scheinbar banalen Anlässen erneut zu solchen Anschlägen kommt, weil das Unzufriedenheitspotenzial hoch ist", sagt sie.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk