"Wir sind Orlando"
3. Juli 201649 Schilder tragen sie. Jedes zeigt ein Gesicht, einen Namen. Dazu eine Flagge, zwölf mal drei Meter groß: "Seite an Seite mit Orlando". Die Gruppe, die an die 49 Todesopfer des Attentats auf den dortigen Homosexuellen-Club Mitte Juni erinnert, geht beim Christopher Street Day (CSD) in Köln voran. Sie bildet den nach den schrecklichen Ereignissen extra konzipierten "Wagen null".
Um Punkt 12.30 Uhr setzt sich der Zug in Bewegung, begleitet von Trillerpfeifen und etwas Konfetti. Es ist ruhiger als sonst beim Christopher Street Day. "Wir sind Orlando" ist überall auf Bannern und T-Shirts zu sehen. Es ist eine Solidaritätsbekundung, die allen Opfern von Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Queer - kurz LGBTQ - gilt.
"Es ist in meiner Heimat passiert"
Stefan Meschig und sein Partner Blake Weston stehen auf der Rheinbrücke im Kölner Stadtzentrum, als der Zug dort vorbeikommt. Sie sind in Umhänge gehüllt, zusammengenäht aus zwei Fahnen: der Regenbogenflagge und den US-amerikanischen "Stars and Stripes".
Dass sie zum CSD kommen, hatten sie lange geplant, doch hat der Tag durch die Ereignisse von Orlando für sie eine größere Bedeutung bekommen. Für den US-Amerikaner Blake Weston ist seitdem nichts mehr, wie es war. "Es beeinflusst meine Stimmung, meine ganze Haltung. Es ist in meiner Heimat passiert." Auch drei Wochen danach ist er sichtlich berührt, wenn er über das Attentat spricht, und muss tief durchatmen. "Jedes Mal, wenn ich etwas darüber sehe, bin ich gepackt. Ich reagiere noch immer sehr emotional."
Seit fünf Jahren lebt der Berufsmusiker in Köln. Dass das Attentat ausgerechnet in Florida passiert ist, hat ihn geschockt. "Ich komme aus Alabama , da ist die Homphobie stark. Florida aber gilt ja eigentlich als liberal."
So wie auch Köln, wo die "Colognepride" dieses Jahr ihren 25. Geburtstag feiert. "Viele Leute hatten Angst mitzugehen", sagt Westons Partner Stefan Meschig, der als Sozialpädagoge für die LGBTQ-Beratungsstelle rubicon in Köln arbeitet. "Es ist heute aber auch eine emotionale Achterbahnfahrt: von Trauer und Mitgefühl für die Opfer, über Ärger und Wut, hin zu dem Bewusstsein: Wir wollen hier heute feiern."
Fast eine Million Menschen kommen an diesem sonnigen Tag an die Zugstrecke, etwa genauso viele wie in den vergangenen Jahren. Nach den Geschehnissen in den USA mussten die Sicherheitsvorkehrungen für den CSD in Köln nicht erhöht werden - sie waren ohnehin schon sehr hoch angesetzt.
Flaggen auf Halbmast
Feierlich wirkt auch die Beflaggung der Rheinbrücke. 49 Fahnen haben die Veranstalter auf Halbmast gesetzt. "Orlando hat jeden wachgerüttelt", sagt Guido Richter, Vorstandsmitglied beim Kölner Lesben- und Schwulentag, der den Kölner CSD organisiert. "Das Attentat hat in einer Diskothek stattgefunden, in einem Schutzraum, wo die Leute ganz entspannt gefeiert haben. Da wird einem klar: Das hätte auch ich sein können."
Zugleiter Jörg Kalitowitsch hat sogar beobachtet, dass viele, die sich in den vergangenen Jahren vom CSD abgewandt hatten, nach dem Attentat von Orlando wieder entschlossen mitzumachen. "Viele, denen hier sonst zu viel gefeiert und zu wenig demonstriert wurde, sagen jetzt: Das Thema ist uns doch näher, als wir eigentlich gedacht und es uns eigentlich gewünscht hätten."
Dieses Jahr laufen wieder mehr als 100 Gruppen bei der Parade mit. Wobei die Veranstalter den Begriff "Parade" eigentlich nicht mögen: Der Christopher Street Day sei eine Demo, so Kalitowitsch. "Wir nennen das hier erst dann Parade, wenn wir alles erreicht haben, was wir wollten." Will sagen: die volle rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung aller sexuellen Orientierungen.
Seine Wurzeln hat der weltweit begangene Tag in einem Aufstand von Homosexuellen gegen Polizeigewalt, der 1969 in der Christopher Street in New York stattfand. Noch immer gebe es viel gesellschaftlichen Nachholbedarf, sagen die Veranstalter des Kölner CSD. So zeigt eine jüngere Studie der Uni Leipzig, dass es 40 Prozent der Befragten als "ekelhaft" empfinden, wenn Schwule sich in der Öffentlichkeit küssen.
"Der Atem stockt"
Dass die Gleichberechtigung noch lange nicht da ist, wo sie sein sollte, findet auch Nicole Hübing. Sie läuft im "Wagen null" mit, der an die Opfer von Orlando erinnert. "Zum ehrenden Gedenken an Miguel Angel Honorato, 30 Jahre alt. Liebe besiegt den Hass", steht auf ihrem Schild. "Angesichts des Attentats habe ich keine Worte. Der Atem stockt", sagt Hübing. "Ich habe mich der Gruppe angeschlossen, weil ich einen kleinen Beitrag leisten wollte." Jedes Jahr sei sie hier. "Und das wird auch so bleiben!"