Coronavirus schwächt Proteste in Nahost
8. April 2020Für die politischen Führer der arabischen Welt brachte das vergangene Jahr erhebliche Unruhe: In mehreren Ländern der Region gingen Menschen massenhaft auf die Straße, um gegen ihre politischen Eliten, gegen Korruption und mangelnde Mitbestimmungsrechte zu demonstrieren.
Doch nicht überall erfüllten sich die Hoffnungen der Bürgerrechtsaktivisten. Einzig im Sudan mündeten die Proteste in politische Reformen. Im Irak, im Libanon und in Algerien hingegen änderte sich wenig. So blieben die Demonstranten weiter auf der Straße.
Dann kam die Corona-Krise - und mit ihr ein zumindest vorläufiges Ende der Protestaktionen. Weil sie Gefahr liefen, das Virus zu verbreiten, wurden die Demonstranten von den Ordnungskräften aus dem öffentlichen Raum vertrieben.
Libanon: Wie Katz und Maus
So führten die libanesischen Behörden Ende März zahlreiche Beschränkungen des öffentlichen Lebens ein - darunter eine Ausgangssperre, die auch große Versammlungen verhindern soll. Ebenso lösten sie das Hauptprotestlager auf dem Märtyrerplatz in Beirut auf. Dabei vertrieben sie auch die etwa 60 Personen starke nationale Kerngruppe der Bewegung. Das Lager selbst hatte als Drehscheibe für die politischen Aktionen der Protestbewegung gedient.Doch es brauchte nur zwei Tage, bis in den Vororten libanesischer Städte neue regierungskritische Demonstrationen stattfanden. Von den Absperrungen, die vor einer Ausbreitung des Coronavirus schützen sollten, ließen sich die Demonstranten nicht beeindrucken.
Bald missachteten die Demonstranten die Ausgangssperre auch in Beirut. In Sprechchören wiesen sie auf ihre Notlage inmitten der libanesischen Wirtschaftskrise hin: "Wir wollen essen, wir wollen leben!" In Tripolis, der zweitgrößten Stadt des Landes, fuhren die Demonstranten in Autos und auf Rollern auf die Straßen und skandierten lautstark: "Am Coronavirus zu sterben, ist besser als zu verhungern."
Irak: Ausharren und warten
Ähnlich das Bild im Irak: Dort haben sich nach offiziellen Zahlen inzwischen mehr als 1.100 Menschen mit dem Virus infiziert, mindestens 65 von ihnen erlagen der Krankheit. Um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, verhängten die Behörden auch hier eine landesweite Ausgangssperre. In deren Folge dünnten sich die Protestlager im gesamten Land aus. Doch einige Demonstranten sind entschlossen, die Stellung zu halten. Verließen sie das Lager, so ihre Sorge, bedeute dies das Ende der Bewegung. Darum haben sie eigene Maßnahmen entwickelt, um das Coronavirus innerhalb der Lager zu bekämpfen. "Wenn wir den Tahrir-Platz verlassen, werden Scharfschützen und Sicherheitskräfte hier die Macht übernehmen", fürchtet Alqasem Ahmed, ein junger Journalist aus Bagdad, der sich für die Forderungen der Demonstranten stark macht. "Dann wird die Bewegung ein Ende haben."
Seit Oktober wurden mehr als 600 Menschen getötet, viele von ihnen bei Zusammenstößen mit Regierungskräften. Bereits vor der Pandemie hatte die irakische Regierung versucht, die landesweiten Demonstrationen gegen Korruption, mangelnden Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen sowie das stark konfessionell geprägte politische System des Landes einzudämmen.
"Wir haben den Tod, die Kugeln und das Tränengas sechs Monate lang überlebt. Darum können wir auch weitere sechs Monate warten, bis Corona endet", so Aktivist Ahmed gegenüber der DW.
Das öffentliche Gesundheitssystem des Irak ist durch jahrzehntelange Sanktionen und Unterfinanzierung zerrüttet. Nun führen die Einschränkungen durch das Coronavirus zu weiteren Härten. Der infolge der Pandemie auf ein rekordverdächtiges Tief gefallene Ölpreis schwächt das Budget der Regierung zusätzlich. Sie ist kaum mehr in der Lage, den aufgeblähten öffentlichen Sektor zu bezahlen. So stehen die Iraker vor einer höchst unsichereren Zukunft.
"Diese Probleme werden die Menschen in größerer Zahl als je zuvor auf die Straße treiben", sagt Ahmed. "Früher war die Gesellschaft aufgespalten zwischen Anhängern der Proteste und jenen, die es vorzogen, zu Hause zu bleiben. Jetzt aber werden die, die bislang nicht auf die Straße gehen, unsere Gründe verstehen und sich uns anschließen."
Algerien: Verstummter Protest
Auch in Algerien hat die Pandemie die Protestbewegung in Mitleidenschaft gezogen. Es scheint, als hätten die Behörden die Einschränkungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus auch hier dazu genutzt, um kritische Stimmen innerhalb des Landes zum Schweigen zu bringen.
Im vergangenen Jahr hatten Massendemonstrationen gegen Korruption und die Macht der herrschenden Elite zum Sturz des langjährigen Herrschers Abdelaziz Bouteflika geführt. Die darauf folgende Präsidentschaftswahl war von Unregelmäßigkeiten geprägt. Zwar machte die Regierung den Demonstranten einige politische Zugeständnisse. Dennoch gab es bis vergangenen Monat weiterhin jeden Freitag Proteste in der Hauptstadt Algier.
Mitte März jedoch untersagten die algerischen Behörden mit Blick auf die Corona-Gefahr nicht nur alle öffentlichen Versammlungen. Sie nutzten die Gelegenheit auch, um mehrere Aktivisten und Journalisten zu gängeln, darunter Karim Tabbou, einer der Köpfe der Protestbewegung. Ende März wurde Tabbou wegen "Aufstachelung zur Gewalt" zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt. Parallel wurde auch der Korrespondent von Reporter ohne Grenzen (ROG), Khaled Drareni, wegen "Angriffs auf die nationale Einheit" zu einer zeitlich nicht festgelegten Haftstrafe verurteilt. ROG und weitere Organisation für Pressefreiheit drückten ihr Bedauern aus, "dass die algerischen Behörden die Coronavirus-Epidemie dazu nutzen, ihre Rechnung mit dem unabhängigen Journalismus zu begleichen".
Doch Verbannung von der Straße und Verhaftungen haben die Bewegung nicht völlig zum Verstummen gebracht. In einem Mitte März veröffentlichten Video der Protestbewegung zum Coronavirus erklärt einer der Teilnehmer: "Schützen Sie sich, damit die Revolution eine Zukunft hat." "Um frei zu sein, muss man leben", skandiert ein anderer Aktivist.