Wie kann Deutschland sich wieder hochfahren?
12. April 2020In Deutschland wächst die Ungeduld: Wie lange müssen die Einschränkungen noch gelten, die eine Ausbreitung des Coronavirus verhindern sollen? Für nächste Woche sind die Regierungschefs der Bundesländer mit Bundeskanzlerin Angela Merkel verabredet, um in einer Telefonkonferenz über das weitere Vorgehen zu beraten. Merkel hielt sich bislang eher bedeckt, was einen mögliche Exit-Strategie angeht, und mahnte die Bundesbürger, weiter geduldig zu sein.
Ein konkreter Vorschlag kommt nun aus Nordrhein-Westfalen. Eine zwölfköpfige Expertengruppe hat im Auftrag von Ministerpräsident Armin Laschet eine Richtschnur entwickelt - als Hilfe für die Entscheidung, wann welche Maßnahmen gelockert werden können. Wie die "Deutsche Presse-Agentur" (dpa) und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) melden, haben die Experten dazu vier Kriterien aufgestellt.
Es müsse bestimmt werden, wo die Gefahr einer Ansteckung besonders hoch sei und wo weniger. Zudem müsse geklärt werden, für wen eine Ansteckung besonders gefährlich ist und was für Wirtschaft und Gesellschaft besonders wichtig sei. Schließlich müsse beurteilt werden, wie gut sich im jeweiligen Bereich Schutzmaßnahmen umsetzen lassen. Die Experten warnen vor zu frühem Optimismus. Deutschland werde lernen müssen, vorerst mit dem Virus zu leben, bis es gänzlich unter Kontrolle sei.
Rückkehr zur Normalität
Zu dem interdisziplinären Team gehören unter anderem der Bonner Virologe Hendrik Streeck, der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio und der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Michael Hüther. Nach dpa- und FAZ-Informationen heißt es in ihrem Papier, dass über Lockerungen erst nachgedacht werden könne, wenn klar sei, dass das Gesundheitssystem "absehbar nicht überfordert ist" und Voraussetzungen für ein besseres "Monitoring" der Krise geschaffen sind. Dann aber könne die Rückkehr zur Normalität "schrittweise forciert werden".
Wie dpa berichtet, steht in einem Begleitschreiben von Ministerpräsident Laschet an Merkel und die Regierungschefs der anderen Bundesländer, es brauche "eine offene, transparente Debatte über den Weg aus der Krise und einen Fahrplan in eine verantwortungsvolle Normalität". Das Experten-Papier und eine Studie des Virologe Streeck über den besonders von der Coronavirus-Epidemie betroffenen Kreis Heinsberg sollten "ein Beitrag zur inhaltlichen Grundlage für unsere gemeinsamen Beratungen in der nächsten Woche sein".
Woche der Entscheidung
Bund und Länder hatten einschneidende Maßnahmen beschlossen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Am 15. April soll beraten werden, wie es weitergeht. Bei einer weiteren Schaltkonferenz Merkels mit den Ministerpräsidenten am 19. April wird voraussichtlich entschieden, ob Teile der Beschränkungen aufgehoben oder verändert werden können.
In dem Experten-Papier heißt es, ein möglicher Weg könne darin bestehen, "einzelne Bereiche des öffentlichen Lebens nach und nach wieder zuzulassen". Dazu gehörten Schulen, Universitäten und der Einzelhandel. Bei den Schulen solle es dabei zeitversetzten Unterricht und Unterschiede je nach Alter geben. In Kitas und im "Präsenzunterricht" sollten zuerst vor allem Lehrkräfte arbeiten, die nicht zu Risikogruppen gehören. Die Kinderbetreuung in Kitas und die "(Teil-)Öffnung von Schulen" könne Beschäftigten und Selbstständigen wieder Freiräume verschaffen.
Zudem sollten die Corona-Testverfahren ausgeweitet werden, wenn die nötige Infrastruktur bereitsteht. Menschen mit Symptomen und bestätigten Kontaktpersonen sollten grundsätzlich immer getestet werden. Auch sollten die Infektionsketten möglichst lückenlos zurückverfolgt werden.
In dem 15-Seiten-Papier unter dem Titel "Weg in eine verantwortungsvolle Normalität" heißt es, vorrangig gelte es, die medizinischen Kapazitäten so schnell wie möglich auszubauen. Zielmarke sei eine Steigerung der Zahl der Tests auf das Coronavirus auf bis zu 500.000 pro Tag. Dazu sei ein schneller Aufbau der Testinfrastruktur auch unter Einbeziehung weiterer Labore und die Einrichtung mobiler Teststationen mit Unterstützung durch das Technische Hilfswerk, die Bundeswehr und das Rote Kreuz nötig.
Wirtschaft und Alltag im Blick
Weiter liegt den Experten am Herzen, dass wirtschaftliche Aktivitäten so schnell wie möglich und soweit verantwortbar wieder zugelassen werden. Sie geben dazu sogar ganz konkrete Tipps: In Betrieben müssten Schutzmaßnahmen ergriffen werden, es müssten also den Mitarbeitern Atemmasken zur Verfügung stehen, der Abstand zwischen den Beschäftigten müsse große genug sein oder Trennwände müssten aufgestellt werden.
Auch Möglichkeiten, dem Alltag der Bürger wieder zu normalisieren, ziehen die Experten in Betracht: Einzelhandelsgeschäfte könnten beispielsweise "sicher früher wieder öffnen als Diskotheken". In der Gastronomie seien gegebenenfalls strikte Vorgaben denkbar, was Tischabstand und die Zahl der Gäste angeht. Weiter heißt es in ihrem Papier: "Großveranstaltungen wie Fußballspiele der Bundesliga mit Zuschauern, aber auch Messen und Kongresse werden auf absehbare Zeit nicht stattfinden können."
Die Experten machen aber auch klar, dass die Ausbreitung von Corona alles wieder ändern könnte: Jede neue Infektionswelle, so das nordrhein-westfälische Gremium, werde erfordern, Schritte wieder zurückzugehen.
AR/bru (dpa, rtr)