Europas Sehnsucht nach Normalität
4. April 2020Wie lange nimmt die Bevölkerung die Einschränkungen hin? Brodelt es unter der Oberfläche? Der FDP-Bundestagsabgeordnete Marco Buschmann glaubt, dass sich besonders aus der deutschen Mittelschicht bald viele Bürger auflehnen könnten, wenn sie sähen, dass sie zum Beispiel ihre Arbeit verlören oder ihr Gespartes an Wert verliert.
Die Freiheitseinschränkungen seien zwar "derzeit gerechtfertigt", sagt Buschmann der Deutschen Welle. Man müsse aber "mit Hochdruck an Wegen arbeiten, um den Shutdown in medizinisch verantwortbarer Weise zu lockern und schließlich aufzuheben". Es gehe um die Frage, "welches Maß an Gefahr verantwortbar ist, um zu einem Stück Normalität zurückzukehren".
Bei der Frage, wann Schluss sein muss mit dem jetzigen Zustand, werden andere konkreter, auch wenn sie Buschmanns Alarmstimmung nicht teilen. Der Unionspolitiker Carsten Linnemann würde die Wirtschaft nach Ostern schrittweise wieder hochfahren. Einen Zustand wie im Moment könne man sich über zwei, drei Monate nicht leisten.
Von medizinischer Seite hält etwa der Virologe Alexander Kekulé erste Lockerungen nach den Osterferien für möglich. Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery dagegen sieht den frühestmöglichen Zeitpunkt erst im Mai.
Noch sind die Deutschen geduldig
Doch die Bundesregierung will von solchen Gedankenspielen bisher nichts wissen. "Wir sind erst am Anfang der Pandemie und dürfen nicht frühzeitig die notwendigen Maßnahmen (…) aufheben", sagte Anfang der Woche Bundesinnenminister Horst Seehofer. Die Regierung will erst dann über eine Lockerung nachdenken, wenn sich die Infektionsfälle mindestens alle zehn Tage verdoppeln. Jetzt sind es etwa alle fünf Tage.
Die meisten Deutschen scheinen keine Eile mit einem Ende der Einschränkungen zu haben. 88 Prozent befürworten in einer Forsa-Umfrage, dass sie weitere drei Wochen bestehen bleiben. Mehr als die Hälfte der Befragten sind sogar für eine Verschärfung. Bisher wurde allerdings nicht gefragt, ob man auch mit einer deutlich längeren Dauer einverstanden wäre.
Es geht auch noch strikter
In Italien, dem am stärksten betroffenen Land in Europa, flacht die Kurve der Neuinfektionen unterdessen ab. Trotzdem und trotz drakonischer Maßnahmen gibt es dort kaum Stimmen, die für eine Entspannung der Maßnahmen sind. Gesundheitsminister Roberto Speranza sagte jetzt: "Wir dürfen die ersten positiven Signale nicht mit einer Entwarnung verwechseln."
Spanien, das Land mit den zweitmeisten Infektionen in Europa, verschärft noch einmal die Vorkehrungen. Nur Menschen, die in "wesentlichen Sektoren" arbeiten, dürfen jetzt das Haus verlassen. "So geht das nicht! Die Regierung hat uns nicht einmal um Rat gefragt", klagt Antonio Garamendi, der Präsident des Unternehmerverbandes CEOE, und malt das Schreckgespenst einer Massenarbeitslosigkeit an die Wand. Durch das Lahmlegen der Wirtschaft drohe "nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Krise".
Von Rückkehr zur Normalität kann auch in Österreich keine Rede sein, im Gegenteil. Die Regierung zwingt die Menschen jetzt sogar zum Tragen eines Mundschutzes im Supermarkt. Die Wiener Zeitung "Die Presse" sieht darin eine "neue Normalität", die wahrscheinlich etwa ein Jahr dauern werde. Das Blatt fährt fort: "Selbstverständlich kann diese Zeit nicht in dem Notbetrieb durchgestanden werden, in dem sich das Land derzeit befindet."
Schweden ist fast "normal" geblieben
Zwei Länder sind zu Beginn der Krise einen etwas anderen Weg gegangen. Sowohl der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte als auch der britische Premierminister Boris Johnson setzten anfangs auf die sogenannte Herdenimmunität. Die bedeutet, dass man, statt die gesamte Gesellschaft einzuschränken, nur die Alten und Schwachen isoliert, während man hofft, dass ein Großteil der übrigen Bevölkerung durch Ansteckung immun wird. Die Schulen beispielsweise blieben zunächst offen. Nach massiver Kritik, die Opfer seien den Regierungen egal, war aber bald von einer gewünschten Herdenimmunität keine Rede mehr. Auch der Ruf nach einem Ende der Maßnahmen bleibt in Großbritannien und den Niederlanden verhalten, wohl auch deshalb, weil sie später erlassen wurden als anderswo.
Ein Sonderfall in Europa und darüber hinaus ist Schweden. Denn dort herrschte die ganze Zeit Normalität - besser gesagt: relative Normalität. Restaurants sind weiter geöffnet, ein Großteil der Schulen ebenfalls. Die schwedische Regierung hat zwar jetzt Besuche in Altersheimen verboten. Ansonsten setzt sie aber auf die Vernunft der Bevölkerung. Ministerpräsident Stefan Löfven appellierte vergangene Woche noch einmal an das Verantwortungsgefühl der Schweden, fügte aber hinzu: "Wir können nicht alles gesetzlich regeln und verbieten."
Eine Frage des Vertrauens
In Deutschland wollen auch die stärksten Mahner kein festes Datum für eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen nennen, sondern dies vom medizinischen Fortschritt im Umgang mit dem Coronavirus abhängig machen. Was sie dagegen fordern, ist eine Ausstiegsstrategie der Bundesregierung.
Der CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach nennt es einen "Vorlauf, um ein strukturiertes Hochfahren des Wirtschaftslebens zu ermöglichen", Bürger und Wirtschaft brauchten "klare Perspektiven". Der Wirtschaftsweise Volker Wieland rät der Regierung, damit an die Öffentlichkeit zu gehen: "Man kann anhand gewisser Kriterien klarstellen: Wie kann es weitergehen?" Das könne die wirtschaftliche Situation stabilisieren und Vertrauen schaffen. Auch Marco Buschmann fordert von der Bundesregierung, sie müsse eine politische Abwägung vornehmen und diese öffentlich kommunizieren. "Wenn dagegen bestimmte Aspekte tabuisiert werden, wird das dauerhaft dem Vertrauen in Staat und Politik schaden".