Griechische Flüchtlingslager "eine Zeitbombe"
1. April 2020DW: Herr Knaus, die Europäische Union will in dieser Woche mit der Umsiedlung von 1600 unbegleiteten Minderjährigen aus griechischen Lagern in aufnahmewillige EU-Mitgliedsstaaten beginnen - reicht das aus?
Gerald Knaus: Normalerweise ist es sinnvoll, sich auf die Schwächsten zu konzentrieren, wie unbegleitete Minderjährige. Wir haben jedoch zurzeit keine normalen Bedingungen. Der Fokus sollte deshalb auf dem liegen, was der größten Zahl von schutzbedürftigen Menschen helfen kann. Auf den griechischen Inseln gibt es Zehntausende Menschen in Not. Viele von ihnen sind Kinder. Sie alle sollten evakuiert werden. Kinder mit Eltern sind nicht sicherer als unbegleitete Minderjährige. Die Frage ist, wie man 35.000 Menschen schnell von den Inseln auf das Festland bringen kann.
Wegen der Coronakrise?
Ja. Wir stehen vor einer verheerenden humanitären Krise auf den Inseln. Einer Krise mit Ansage, die jetzt aber noch zu verhindern ist. Die Bedingungen dort waren lange Zeit schrecklich. Aber wenn jetzt noch eine Infektion mit dem Coronavirus dazu kommt – mitten unter 20.000 Menschen, die im Lager auf Lesbos eng zusammen leben, sich nicht die Hände waschen können, mit nur sechs Intensivbetten auf der Insel – da ist offensichtlich, warum wir handeln müssen.
Als das Coronavirus vor kurzem ein holländisches U-Boot erreichte, wurden alle Besatzungsmitglieder sofort in soziale Isolation gesteckt. Worauf warten wir also auf Lesbos? Es liegt nicht nur im Interesse der Flüchtlinge, sondern auch im Interesse Griechenlands und der Europäischen Union insgesamt. Um das Virus zu besiegen, müssen wir die Schwachpunkte in unseren Gesundheitssystemen angehen.
Und wie könnte eine Evakuierung der Flüchtlinge auf das griechische Festland ablaufen?
Der erste Schritt wäre, dass die griechische Regierung ihren europäischen Partnern sagt, dass sie dies tun will. Wenn die griechische Regierung denkt, sie kann die Infektionsgefahr aussitzen, dann kann auch niemand helfen.
Es ist klar, dass es in den nächsten Monaten keine Rückkehr von Flüchtlingen von den griechischen Inseln in die Türkei geben wird. Die Grenzen sind geschlossen. Diejenigen, die jetzt auf den Inseln sind, werden in Griechenland bleiben. Und viele in Griechenland verstehen, dass dort eine Zeitbombe tickt: Das ist, als würde man täglich eine Massenveranstaltung abhalten. Ich hoffe also, dass der griechische Premierminister bald zum Telefonhörer greift und sagt: "Wir müssen das lösen. Wir brauchen Unterstützung." Dann müssen natürlich auch andere in der EU bereit sein zur Unterstützung. Und das erfordert eine Debatte darüber, was jetzt zu tun ist.
Sie nehmen an dieser Debatte teil und haben einen Vorschlag vorgelegt...
Es ist eigentlich klar, was getan werden muss und was getan werden kann. 35.000 Flüchtlinge müssen so schnell wie möglich von den Inseln auf das griechische Festland gebracht werden. Es könnten schnell 15.000 zusätzliche Betten in provisorischen Zeltlagern bereitgestellt werden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) ist in der Lage, diese innerhalb weniger Wochen aufzubauen. Weitere 10.000 Menschen können in zurzeit leerstehenden griechischen Hotels untergebracht werden. Und schließlich könnten 10.000 Menschen problemlos in Einrichtungen untergebracht werden, die bereits von der EU bezahlt werden - Orte, an denen jetzt anerkannte Flüchtlinge leben. Wenn Länder wie Deutschland diese anerkannten Flüchtlinge schnell aufnehmen würden, könnte man sofort Platz für Familien von den Inseln schaffen. Dies wäre auch ein starkes Zeichen an die Griechen, dass sie nicht allein sind.
Aber in den europäischen Ländern, die von der Corona-Krise betroffen sind, könnte es für Politiker sehr schwierig sein, die Öffentlichkeit jetzt von der Aufnahme von Flüchtlingen zu überzeugen.
Es ist klar, dass sich nur einige Länder beteiligen werden. In Deutschland wissen die Menschen, dass es heute in den Flüchtlingsunterkünften freie Betten gibt. Und wenn man anerkannte Asylsuchende verlegt, dann ist ihre Identität bekannt. Wir wissen, dass sie Schutz verdienen. Wir sprechen von einer relativ kleinen Zahl. Nehmen wir an, Deutschland bietet an, 5000 anerkannte Asylsuchende vom griechischen Festland aufzunehmen. Deutschland hat in der vergangenen Woche 170.000 Deutsche aus dem Ausland zurückgeführt, unter Einhaltung der Standards zum Gesundheitsschutz. Eine solche Aktion wäre die Art von europäischer Solidarität, an die sich die Menschen noch in Jahrzehnten erinnern.
In dieser Krise können wir zeigen, dass wir Werte wie die Menschenwürde und die Flüchtlingskonvention verteidigen. Dass die Solidarität mit den europäischen Partnern auch in schwierigen Zeiten Bestand hat.
Das Gespräch führte Birgitta Schülke-Gill
Gerald Knaus ist Mitbegründer und Vorsitzender des Think Tanks "European Stability Initiative". Er war der Architekt des im März 2016 unterzeichneten Flüchtlingsabkommens der Europäischen Union mit der Türkei.