Corona: Ex-Minister Jens Spahn und die Maskenaffäre
23. Juli 2024Es wird eng für den Bund. Im Streit um vom Bundesgesundheitsministerium bestellte, dann aber nicht angenommene und nicht bezahlte Corona-Schutzmasken hat das Oberlandesgericht Köln kürzlich zugunsten eines Lieferanten entschieden. Die Richter urteilten in zweiter Instanz, dass das Ministerium knapp 86 Millionen Euro plus gut 33 Millionen Euro Verzugszinsen zahlen soll.
Das Urteil könnte Signalwirkung haben. Denn es sind rund 100 weitere, ähnliche Klagen vor Gericht anhängig. Sollte das Gesundheitsministerium diese ebenfalls verlieren, droht insgesamt ein Rekordschaden von 2,3 Milliarden Euro oder sogar noch mehr. Schon jetzt gelten die Masken-Käufe als einer der größten Steuerverschwendungsskandale in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die Rolle Chinas bei der Maskenproduktion
Rückblick: Im März 2020 wird die Welt von der Corona-Pandemie sprichwörtlich überrollt. Es fehlt vor allem an Schutzkleidung. Atemschutzmasken mit dem sogenannten FFP2-, KN95- oder N95-Standard, die zuverlässig gegen das Virus schützen sollen, sind absolute Mangelware.
"China, der damalige Produzent von rund 80 Prozent der Masken, also der Hauptproduzent, war im Lockdown und hatte den Export gestoppt", erinnerte die CDU-Abgeordnete Simone Borchardt im Juni im Bundestag in einer Debatte zu den Masken-Käufen. Weltweit setzte ein Ansturm auf noch verfügbare Masken ein. "In Deutschland haben wir sogar Richtlinien entwickelt, wie wir Masken mehrmals benutzen können und ob man die waschen darf, so irre war das damals."
Spahns Kalkül und das "Open House"-Verfahren
In dieser Situation beschloss der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Masken in einem sogenannten "Open House"-Verfahren zu beschaffen. Dabei schließt der öffentliche Auftraggeber Verträge mit allen interessierten Unternehmen ab, ohne dass eine Auswahl getroffen wird. Jeder Anbieter kommt also zum Zug.
Spahns Kalkül: Im weltweiten Wettbewerb um Masken muss er den Preis nur hoch genug ansetzen, um an die Ware zu kommen. Entgegen der Empfehlung seiner Beamten im Ministerium, die drei Euro pro Maske für angemessen halten, setzt Spahn 4,50 Euro an. Für jede OP-Maske wurden 0,60 Euro angeboten. Die Resonanz ist überwältigend. Viel mehr Lieferanten als angenommen wollen viel mehr Masken als erwartet liefern. Schließlich hat das Ministerium Bestellzusagen für 5,7 Milliarden Masken auf dem Tisch liegen.
"Das lässt nur einen Schluss zu: Der Preis war deutlich zu hoch angesetzt", urteilt die SPD-Bundestagsabgeordnete Martina Stamm-Fibich. "Es stellt sich aus meiner Sicht bereits hier die Frage, wie man so am Marktgeschehen vorbei kalkulieren konnte, und wer dafür die politische Verantwortung trägt", so Stamm-Fibich im Bundestag.
Spahns Verteidigung und die damalige Situation
Ein Vorwurf, den Jens Spahn nicht auf sich sitzen lassen will. "Mit dem Wissen von heute würde ich manche Entscheidung anders treffen, ohne Zweifel", räumte der CDU-Politiker in der Debatte ein. "Und ja, auch das Open-House-Verfahren kann ich in einer solchen Lage mit dem Wissen von heute nicht empfehlen."
Doch man dürfe nicht vergessen, "wie das Wissen von damals war und unter welchen Umständen wir entschieden haben". Es sei um Menschenleben gegangen, Klinikdirektoren hätten mit Schließungen gedroht, das medizinische Personal Schutz verlangt. "Wir haben Masken beschafft. War es teuer? Ja. War es teilweise chaotisch? Ja. So ging es allen Ländern auf der Welt", verteidigt sich Spahn. "Ich kenne niemanden, der damals gesagt hat: Passt aber bloß auf, dass die Preise nicht zu hoch sind! - Ich kenne aber ganz viele, die gesagt haben: 'Besorgt Masken um jeden Preis', im wahrsten Sinne des Wortes."
Hatte sich das Ministerium verkalkuliert?
Die Rechnung des Bundesgesundheitsministeriums lief darauf hinaus, dass bei fünf Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen, die zwei Masken am Tag brauchten, mehr als drei Milliarden Masken im Jahr nötig seien. "Wer nicht weiß, ob es eine zweite, eine dritte Welle gibt, wer nicht weiß, ob China erneut zumacht, der muss doch Vorsorge treffen in einer solchen Situation. Und das haben wir gemacht, nach der Devise: Haben ist besser als brauchen", so der CDU-Politiker.
Allerdings wurden am Ende nur 1,7 Milliarden der bestellten Masken in Deutschland verteilt. Schon 2023 mussten 1,2 Milliarden Schutzmasken vernichtet werden, weil das Verfallsdatum abgelaufen war. Weitere Schutzmasken sind noch zur Vernichtung vorgesehen.
Der Passus mit dem "Fixgeschäft"
Was Spahn auch nicht erwähnt: Angesichts der unerwartet hohen Bestellzusagen muss man im Gesundheitsministerium schon früh zu dem Schluss gekommen sein, sich verkalkuliert zu haben. Denn schon Anfang Mai 2020 wurde das "Open House"-Verfahren ruckartig beendet und überlegt, wie man aus möglichst vielen Verträgen wieder herauskommen könnte.
Eine Chance bot sich, als Unternehmen nicht die erwartete Qualität lieferten. In diesen Fällen trat das Ministerium einseitig vom Kaufvertrag zurück. Gleiches passierte Lieferanten, die nicht pünktlich liefern konnten, sondern zum vereinbarten Termin nur einen Teil der Masken bereitstellten. In den Kaufverträgen war von einem "Fixgeschäft" die Rede, bei dem die Vertragspflichten nach Verstreichen des Liefertermins entfallen würden.
Richter: Lieferanten wurden benachteiligt
Doch genau diesen Passus hat das Kölner Oberlandesgericht für unwirksam erklärt. Die Richter sind der Meinung, dass Lieferanten damit in einer "unangemessenen" Weise benachteiligt waren. Stattdessen hätte das Ministerium eine nachträgliche Frist zur Erfüllung der Lieferpflichten setzen müssen.
Dem Interesse des Gesundheitsministeriums, kurzfristig einwandfreie, sofort verwendbare Schutzmasken zu beschaffen, hätte auch mit der Setzung einer kurzen, nachträglichen Frist Rechnung getragen werden können, so das Gericht. Von "juristisch fraglichen Ausschreibungen" spricht der grüne Bundestagsabgeordnete Andreas Audretsch. Die Verträge seien "juristisch windig" aufgesetzt worden, warf er Spahn im Bundestag vor.
Revision vor dem Bundesgerichtshof nicht sicher
Das Bundesgesundheitsministerium, seit dem Regierungswechsel Ende 2021 von der SPD geführt, will den Fall nun vom Bundesgerichtshof, also von der obersten juristischen Instanz in Deutschland, klären lassen. Zumal die Kölner Richter anders urteilten als das Bonner Landgericht, das die Klage des Unternehmens in erster Instanz abgewiesen hatte.
Allerdings muss sich erst noch herausstellen, ob der Bundesgerichtshof den Fall annimmt. Sollte er ihn abweisen, wird das Kölner Urteil rechtskräftig und dürfte die erwähnte Signalwirkung auf die übrigen Gerichtsverfahren haben - mit den entsprechenden finanziellen Folgen.
Corona-Aufarbeitung politisch: Bürgerrat oder Enquete-Kommission?
Jenseits der juristischen Aufklärung geht auch die politische Debatte weiter - und sie reicht weit über die Masken-Käufe hinaus. Waren die staatlichen Corona-Maßnahmen mit ihren tiefen und weitreichenden Eingriffen in die Grundrechte gerechtfertigt? Welche Lehren sind aus der Pandemie zu ziehen, was wäre in Zukunft anders zu machen?
Allerdings konnten sich die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP bislang nicht einigen, in welcher Form eine Aufarbeitung angemessen wäre. Alle drei Parteien haben Sympathien für einen Bürgerrat. Grüne und FDP drängen darüber hinaus auf die Einsetzung einer Enquete-Kommission im Bundestag. Die Corona-Pandemie ist zwar Geschichte, aber politisch und finanziell ist sie längst nicht abgeschlossen.