Emotionale Lockdown-Debatte in Deutschland
28. Oktober 2020In Deutschland gerät das Corona-Infektionsgeschehen weiter außer Kontrolle: Das Robert Koch-Institut vermeldete abermals einen neuen Rekord: 14.964 bestätigte Neuinfektionen binnen eines Tages. Vor diesem Hintergrund will Bundeskanzlerin Angela Merkel heute mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Bundesländer weitreichende Beschlüsse fassen.
Eine Beschlussvorlage, die vorab an verschiedene Medien durchgesickert ist, sieht einen Shutdown vor, der annähernd mit den Beschränkungen im Frühjahr vergleichbar ist: Kontakte sollen demnach auf ein absolutes Minimum reduziert, Treffen von mehr als zwei Haushalten in der Öffentlichkeit gar verboten werden. Sport- und Kulturstätten droht die vorübergehende Schließung, die Gastronomie soll nur noch für den Außer-Haus-Verzehr offengehalten werden. Anders als im Frühjahr sollen jedoch Schulen, Kindergärten geöffnet bleiben. Auch der Einzelhandel soll, wenn auch mit zusätzlichen Einschränkungen, offen gehalten werden. Die Maßnahmen sollen laut der Vorlage ab dem 4. November gelten - vorausgesetzt, die Runde stimmt ihnen zu.
Einigung auf Gesundheitsnotstand?
Am Nachmittag meldeten Nachrichtenagenturen, dass die verschärften Beschränkungen bereits am 2. November in Kraft treten sollen. Bei dem virtuellen Treffen haben sich derweil Bund und Länder verständigt, zur Eindämmung der Corona-Krise eine "Gesundheitsnotlage" für Deutschland auszurufen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus der Videokonferenz. Offen blieb zunächst, was das genau bedeutet.
Die Bundesregierung will Medienberichten zufolge Firmen, die von neuerlichen Corona-Beschränkungen betroffen sein werden, einen Großteil der Einnahmeausfälle ersetzen. Es könnten bis zu 75 Prozent der Umsätze vom November 2019 gezahlt werden, berichtet das "Handelsblatt" unter Berufung auf Regierungskreise. Bereits gewährte Hilfen wie Überbrückungshilfen oder Kurzarbeitergeld sollten von den Nothilfen abgezogen werden. Die Kosten für die staatliche Hilfe würden auf acht bis zehn Milliarden Euro geschätzt. Dies sei auch abhängig davon, welchen Branchen die Nothilfen gewährt würden.
Kritik aus Gastronomie und Einzelhandel
Kurz vor den Beratungen Merkels mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten brachten unterschiedliche Akteure noch Argumente für schärfere oder weniger strenge Maßnahmen in bestimmten Bereichen vor: Insbesondere die Pläne für Beschränkungen in der Gastronomie stoßen auf Kritik. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Guido Zeitler, argumentierte, das Gastgewerbe sei nach bisherigen Erkenntnissen kein Infektionsherd wie etwa private Feiern, solange Hygienestandards eingehalten würden. Arbeitsplätze drohten, unwiederbringlich verloren zu gehen, sagte Zeitler: "Hotels, Gaststätten und auch Bars sind die mit am stärksten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Unternehmen und dürfen nicht geopfert werden."
Die weitgehende Schließung ist jedoch noch nicht beschlossene Sache: Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther hat betont, dass er strikt dagegen sei.
Auch der Einzelhandel sprach sich selbst davon frei, ein Infektionstreiber zu sein. "Der Einzelhandel ist kein Hotspot, Einkaufen ist auch in der Pandemie sicher", sagte der Hauptgeschäftsführer des Außenhandelsverbands HDE, Stefan Genth. Nach den Plänen soll sich zu jedem Zeitpunkt nur ein Kunde je 25 Quadratmeter Einkaufsfläche in einem Laden aufhalten dürfen. Diese Begrenzung kritisierte Genth als unverhältnismäßig: Sie führe besonders bei Lebensmittelgeschäften zu unnötigen Warteschlangen und damit zu vermeidbaren Ansteckungsrisiken.
Entgegen der kurzfristigen Lage bleiben deutsche Unternehmen insgesamt jedoch optimistisch: Das Einstellungsbarometer des Münchner Ifo-Instituts stieg um 0,2 auf 96,5 Punkte - das bedeutet, dass viele Unternehmen auf der Suche nach Arbeitskräften sind. Das betrifft vor allem Handel und Baubranche. "Trotzdem planen mehr Unternehmen Entlassungen als Einstellungen", sagte Ifo-Experte Klaus Wohlrabe.
FDP und AfD gegen schärfere Maßnahmen
Christian Lindner, Chef der liberalen Oppositionspartei FDP, schrieb auf Twitter, Merkel wolle "unter anderem die Gastronomie komplett stilllegen". Lindner sagte, er halte das "für unnötig und deshalb auch verfassungswidrig".
Sein Parteikollege, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, mutmaßte im Deutschlandfunk, die Pläne insgesamt hätten vor Gericht wohl keinen Bestand. "Ich warne dringend vor Alarmismus, der auch zu falschen Entscheidungen führen kann", sagte Kubicki.
Neben der FDP ist auch die AfD gegen schärfere Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Co-Fraktionschef Alexander Gauland sprach von "gefährlichem Aktionismus" und kündigte an, seine Fraktion werde sich "mit aller Kraft gegen einen erneuten Lockdown" stemmen.
Linke zweifelt an Effizienz
Der Co-Chef der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, nannte die Pläne aus der Beschlussvorlage "vielfach unverhältnismäßig und ineffektiv". Bartsch äußerte bei Twitter die Befürchtung, man treibe die Menschen damit "geradezu in den privaten Raum, wo die meisten Infektionen stattfinden. Das kann niemals bundeseinheitlich über das ganze Land verhängt werden."
Sein Parteifreund Bodo Ramelow könnte die Bundeseinheitlichkeit der Beschlüsse vereiteln: Der thüringische Ministerpräsident hatte bereits angekündigt, dass er einem möglichen Lockdown-Beschluss nicht zustimmen werde.
Drosten für "Mini-Lockdown"
Auch von Medizinern und Wissenschaftlern gibt es differenzierte Wortmeldungen. Der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, sagte in seinem NDR-Podcast: "Wenn die Belastung zu groß ist, muss man eine Pause einlegen." Er sprach sich für einen "Mini-Lockdown" aus, also eine mit Vorlauf angekündigte und zeitlich befristete Maßnahme. Vorbild sind die britischen Regionen Wales, Nordirland und Schottland, die bereits solche "circuit-breaker", also Überlastschalter eingesetzt haben. Dort gelten vorübergehende Verschärfungen für zwei Wochen; Drosten empfahl eine Dauer von drei Wochen.
Der Virologe Alexander Kekulé sagte im Mitteldeutschen Rundfunk, die Schließung von Restaurants sei nicht sinnvoll. Stattdessen sollte bei Verstößen gegen die bestehenden Regeln, insbesondere im privaten Bereich, härter durchgegriffen werden.
Entlastung für Gesundheits- und Pflegepersonal
Angesichts der steigenden Fallzahlen wächst bereits spürbar der Druck auf Ärztinnen und Pfleger. Gesundheitsminister Jens Spahn, der selbst derzeit eine COVID-19-Erkrankung zu Hause auskuriert, warnte im SWR: "Wenn wir warten, bis die Intensivstationen voll sind, ist es zu spät." Es sei besser, jetzt "die Welle zu brechen", um die Situation an Weihnachten wieder eher unter Kontrolle zu haben.
Aus der Pflegebranche kommen Zweifel an der Idee, die Belegschaft regelmäßig mit Schnelltests auf unerkannte COVID-19-Infektionen zu untersuchen. Eine regelmäßige Testung sei personell nicht leistbar, sagte der Vizepräsident des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, Stefan Werner, der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Unter anderem hatte FDP-Politiker Kubicki sein Unverständnis darüber geäußert, dass Schnelltests nicht längst in großem Umfang in Alten- und Pflegeheimen eingesetzt werden.
Ute Teichert, die unter Anderem die Interessen der Ärztinnen und Ärzte in Gesundheitsämtern vertritt, forderte im RBB-Inforadio, neue, bundesweit einheitliche Maßnahmen. Kontaktbeschränkungen seien zwar schade und schwierig, sagte Teichert, "aber wir haben keine Medikamente, wir haben keinen Impfstoff, die einzige Möglichkeit, die Virusausbreitung zu verhindern ist, die Kontakte zu reduzieren".
Unterdessen plädiert SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach für Eingriffe in einen besonders sensiblen Bereich: "Wenn private Feiern in Wohnungen und Häusern die öffentliche Gesundheit und damit die Sicherheit gefährden, müssen die Behörden einschreiten können", sagte Lauterbach der "Rheinischen Post". Das Grundgesetz stellt die Wohnung unter besonderen Schutz und stellt hohe Hürden für staatliche Eingriffe.