Die Welt schaut auf Merkel
24. April 2020Der Begriff "lahme Ente" ist das übliche Prädikat für Politiker, die keine erneute Kandidatur anstreben. Sie gelten als geschwächt, ihre politische Halbwertzeit ist kalkulierbar.
Schon vor Jahren sortierten politische Beobachter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in diese Schublade. Und immer wieder - nach dem schwachen Abschneiden der CDU bei der Bundestagswahl 2017, bei ihrem Rücktritt vom Amt des Parteivorsitzes 2018, angesichts der diversen Anläufe ihres einstigen Konkurrenten Friedrich Merz hinauf zur politischen Führung 2018 und 2020 - zählen Kritiker ihre Tage. Und auch "Merkelianer" in der Fraktion rechneten im vertrauten Gespräch schon vor zwei Jahren mit einem Rückzug in der Jahresmitte 2019. Nichts da. Sie regiert. Wie ein alter VW-Käfer: zuverlässig, schmucklos, etwas unbequem.
Israel und Neuseeland, Tansania und Argentinien
Derzeit steht Merkel beim Ansehen im Sonnenlicht wie seit vielen Jahren nicht mehr. National und, mehr noch, international. "Die Medien hier in Israel", sagt Amichai Stein der Deutschen Welle, "sehen sie als eine der stärksten Führungspersönlichkeiten weltweit". Stein ist diplomatischer Korrespondent bei kan, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Israel. Für Deutschland gebe es viel Aufmerksamkeit in Israel. Und angesichts von Corona gelte dieser Blick Merkel als Führungsgestalt, "die den Menschen die Situation verständlich machen und den Menschen deutlich erklären kann".
Diese journalistische Bewertung aus Israel deckt sich mit Zeitungskommentaren weltweit, politischen Einschätzungen oder Stimmen in den sozialen Medien. Beispiele? Noch im März titelte der "New Zealand Herald": "Deutschlands Führung glänzt in der Krise auch bei schwindender Macht". Für die Zeitung zählen Deutschland und Merkel zu den "Gewinnern", sind mit ihrer Strategie im Kampf gegen die Pandemie ein "Vorbild". Aus Afrika zwei Wortmeldungen aus den sozialen Medien, aus Tansania. Philbert Jonathan Kyenshambi twitterte, die deutsche Regierungschefin habe "im Kampf gegen Corona die Zeichen der Zeit erkannt". Und Alistide Elias Byamungu schrieb: "Congratulations, Chancellor Angela Merkel!". Kolleginnen und Kollegen der Deutschen Welle kennen weltweit seit langem Lob oder auch Tadel für Deutschland. Und in diesen Tagen fällt vielen der Respekt für Merkel auf.
In Lateinamerika geriet ein Kommentar in "Clarin", der meistgelesenen Tageszeitung Argentiniens, Mitte dieser Woche zum Hymnus, der auch viel über Politiker in der Region sagt. Kommentator Ricardo Roa sprach von der "65-jährigen promovierten Physikerin, Tochter eines lutherischen Pfarrers und einer Lateinlehrerin", in Ostdeutschland aufgewachsen, einer Frau, die sich auch nach 15 Jahren an der Spitze einer Großmacht "wie ein normaler Mensch" verhalte. Und nun die Corona-Krise. Merkel gehöre da unter den Politikern weltweit "zu den ganz wenigen", die nicht sich retteten, sondern "führen". "Sie kommuniziert mit wissenschaftlicher Strenge. Sie vermittelt Ruhe. Sie entwaffnet die Hysterie". Und Roa prägt, was im Spanischen leichter geht als im Deutschen, ein Wort: Neben allen konkreten Schritten wie Koordination und Vernetzung aller politischen Schritte gebe es noch als "anderes Heilmittel" die "Merkelina", diese "Nüchternheit und Entschlossenheit" der politischen Führung, "indem man versucht, die Probleme zu lösen, und nicht versucht, aus den Problemen politischen Nutzen zu ziehen". "Eine echte Führungspersönlichkeit", so das Fazit des Kommentators aus Argentinien.
"Untypisch sentimental"
Lob, das viele in Deutschland leid sind nach 15 Jahren Merkel, weil es weniger das politische Ringen hervorhebt als die Führung in der Krise. Und eben Lob, das verrät, dass diese Art der Führung international ein knappes Gut geworden ist. Das gilt auch für die USA und Großbritannien. Wer aktuelle Ausgaben von "The Atlantic", "Forbes" oder auch "The New York Times" liest, stößt auf solches Lob für Merkel, in dem Kritik an Trump verpackt ist. "Seit Wochen setzt die deutsche Regierungschefin ihre charakteristische Rationalität, gepaart mit einer untypischen Sentimentalität ein", heißt es in einem langen "Atlantic"-Beitrag. Und aus London, wo es ähnliche, nicht ganz so innige Berichte gibt, berichtet eine Kollegin, dass in fast jeder Pressekonferenz der Regierung von Journalisten die Frage komme, warum man sich nicht nach dem Beispiel Deutschlands ausrichte.
Dabei geht es in Deutschland eigentlich schon um die Zeit nach Merkel. Als sich vor Ostern der Tag zum 20. Mal jährte, an dem sie den CDU-Vorsitz übernahm, erinnerte fast niemand daran. Es war der Corona-Pandemie geschuldet, dass Merkel beim jüngsten ARD-"Deutschlandtrend" den höchsten Zufriedenheitswert seit 2017 erreichte. Das passt zu ihrer starken medialen Präsenz als Krisenmanagerin auf deutschen TV-Bildschirmen.
Lob von Rechts und Links
Woran liegt der geradezu weltumspannende Respekt für Merkel? Der Bundestagsabgeordnete Andreas Nick ist auch Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg, der Mandatsträger aus knapp vier Dutzend Ländern angehören. "Anders als viele bei uns im Inland nach 15 Jahren nehmen internationale Beobachter und Kollegen aus anderen Parlamenten die Besonderheit des Entscheidungs- und Führungsstil von Angela Merkel mit deutlich mehr Tiefenschärfe wahr", sagt er der Deutschen Welle. Dazu zähle, sagt der in Europa bestens vernetzte Nick, auch der Kontrast zu jeweils eigenen nationalen Erfahrungen. Nick charakterisiert, was da zählt: "Merkels Ansatz ist ebenso pragmatisch wie zielorientiert, dabei stets analytisch prüfend und sorgfältig abwägend, protestantisch nüchtern und erfrischend uneitel." Sie sei eben eine gelernte Naturwissenschaftlerin mit Lebenserfahrung im "Untergang eines allzu selbstgewissen ideologischen Systems", der DDR, - und nicht zuletzt eine Frau.
Klar, Nick ist CDU-Politiker, ein Vertreter des Merkel-Kurses. Was soll der anderes sagen? Aber auch von der anderen Seite des politischen Spektrums kommt Respekt für den Kurs der Kanzlerin. Bodo Ramelow, der Ministerpräsident von Thüringen, ist wohl der Linken-Politiker, der in der Corona-Zeit bei immer neuen Video-Konferenzen am meisten mit der Kanzlerin zu tun hat. Die Bundesregierung, so Ramelow zur Deutschen Welle, handele so wie alle Landesregierungen auch: "als Krisenmanager und als Kommunikator". Er finde das Agieren der Bundeskanzlerin "wohltuend ruhig und zielorientiert, was sich insbesondere auch in den gut strukturierten Video- und Telefonkonferenzen zeigt". Das bringe eine gewisse Gelassenheit in die eigentlich komplexen Gespräche ein.
Dabei kritisiert Merkel derzeit ja durchaus das Vorgehen der Bundesländer. Diese kritische Sicht, bekennnt Ramelow, "nehme ich mir zu Herzen, denn es kommt in diesen Zeiten wirklich auf gemeinsames Handeln an". Da die Welt wegen der Pandemie gerade "außer Rand und Band" sei und Politik sich um die Eindämmung der Gefahr und um konkrete Lösungen zur Hilfe für die Menschen kümmern müsse, sei ihm "als erste Frau im Staat eine ruhige Naturwissenschaftlerin wirklich lieber als wichtigtuerische Männer, die sich als Populisten gefährlich über die Fakten der Gefahr hinwegsetzen".
Merkel ohne Maske
In all den Corona-Wochen ist Merkel zumindest nie öffentlich mit Schutzmaske aufgetreten. Sie ist einfach Merkel, und vielleicht war sie nie so sehr Politikerin wie Naturwissenschaftlerin, wie jetzt.
Dieses Referieren auf Überprüfungen, auf Beweise und Vermutungen, dieser analytische Blick stets nach vorne. Es ist das, was Deutsche ansonsten auch nervt oder einschlummern lässt. In einer Welt ohne Corona wäre an diesem Samstag für Merkels Nachfolgerin an der Spitze der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, der nächste, dann männliche, Nachfolger gewählt worden.
Und wieder hätten sich Kommentatoren überboten darin, die Tage der Kanzlerin auf Abruf herunterzuzählen. Vorbei. Die CDU-Spitze wird nun wohl erst im Dezember neu besetzt. Und Kanzlerin Merkel übernimmt am 1. Juli ihr nächstes Amt. Für sechs Monate hat Deutschland dann turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Vor einem Jahr spekulierten nicht wenige Unionspolitiker, ob Merkel schon vor dieser EU-Aufgabe abgelöst, im Grunde weggeputscht werde – oder ob sie weiter im Amt bleibe. Jetzt werden die einen wie die anderen nichts dagegen haben, dass sie in der Zeit der Ratspräsidentschaft weiter an der Spitze der Regierung stehen wird.
Wer dann?
Und doch schauen, bei aller aktuellen Euphorie, viele auf die Zeit danach. Die Corona-Geschichte zu Deutschland in der jüngsten "Sunday Times" war im Grunde schon keine Merkel-Geschichte mehr. Das Foto zeigt Merkel und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, die Überschrift lautet "'Corona-Kaiser' stürmt voran im Rennen um die Nachfolge von Angela Merkel". Ja, sogar im Englischen steht da "Kaiser". Und auch Amichai Stein in Tel Aviv kommt, wenn er von Merkels Gabe spricht, als Führungsperson den Menschen "die Lage klar und verständlich zu erklären", auf das Danach: "Der andere Grund für diese internationale Aufmerksamkeit ist, dass man noch nicht weiß, wer sie ablösen wird..."
Die Frage wird noch ein Weilchen offen bleiben.