Corona, die EU und Chinas Impf-Diplomatie
8. Februar 2021"Die Welt wird nach Corona eine andere sein." Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron und andere Spitzenpolitiker haben auf Basis dieser Überzeugung einen Appell für mehr internationale Solidarität formuliert, der in mehreren großen deutschen Zeitungen erschien.
Von Zusammenarbeit war zu Beginn der Pandemie allerdings selbst innerhalb der Europäischen Union wenig zu spüren. Da schlossen einzelne Mitgliedsländer eigenmächtig Grenzen; fast jeder Staat ergriff jeweils eigene Maßnahmen, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Statt gegenseitiger Rücksicht sah man nationale Egoismen.
Brexit-England beim Impfen vor der EU
Das hat sich inzwischen geändert. Bei der Impfstoffbeschaffung etwa geht die EU gemeinsam vor - und wird nun auch dafür kritisiert. Denn die Versorgung der europäischen Bevölkerung mit Impfstoff ist nur sehr schleppend angelaufen. Ausgerechnet das Austrittsland Großbritannien hat beim Impfen deutlich die Nase vorn. Während für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zwölf Millionen geimpfte EU-Bürger eine "stattliche Zahl" sind, hat Großbritannien bereits neun Millionen seiner eigenen Bürger geimpft.
Dabei hatte von der Leyen im Mai vergangenen Jahres in einem DW-Interview noch selbstbewusst gesagt: "Zillionen von Dosen werden gebraucht. Und dann müssen wir sicherstellen, dass sie auch in jede Ecke der Welt für einen fairen und erschwinglichen Preis verteilt werden."
Jetzt stockt es in Europa selbst. Vor allem in Deutschland, wo das Unternehmen BioNTech zusammen mit dem US-Konzern Pfizer früh einen Impfstoff entwickelt hat, wurde die Frage gestellt, warum Deutschland den langwierigen europäischen Weg der Impfstoffbeschaffung geht. Immerhin kostet jeder Tag Impfverzögerung Menschenleben.
Kommission hat einen guten Ansatz "sehr schlecht ausgeführt"
Trotzdem war das der richtige Weg, findet Daniel Gros, Leiter der Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies: "Der Ansatz, zusammen die Impfstoffe zu bestellen, war richtig und notwendig, um die Probleme zu vermeiden, die entstehen, wenn Mitgliedstaaten gegeneinander bieten", antwortet Gros schriftlich auf eine Anfrage der Deutschen Welle. Und fährt fort: "Die Ausführung durch die Kommission war sehr schlecht."
Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte in einer europapolitischen Rede in Stuttgart, wenn die Mitgliedsländer jeweils einzeln mit den Pharmakonzernen verhandelt hätten, hätten "ärmere und kleinere Mitgliedsstaaten" das Nachsehen gehabt.
Berlin hat EU-Gesundheitskompetenz mit verhindert
Die Verzögerungen beim Impfen kommen auch daher, dass die Gesundheitspolitik Sache der Einzelstaaten ist. Erst im November hatte die Kommission vorgeschlagen, eine EU-Behörde für Gesundheitsnotfälle zu schaffen.
Juncker erinnert daran, dass die Frage einer europäischen Gesundheitsbefugnis schon vor Jahren diskutiert worden sei. Damals aber habe unter anderem die deutsche Regierung unter Gerhard Schröder sie abgelehnt. Wäre sie verwirklicht worden, "dann hätte die Kommission zu Anfang dieser Pandemie anders, schlagkräftiger und durchgreifender reagieren können, als sie das tat".
Impfstoffe als Machtmittel
Wenn Merkel und Macron sagen, "die Welt wird nach Corona eine andere sein", dann gilt das nicht zuletzt geopolitisch. Die deutsche Kanzlerin soll in einer Kabinettssitzung einmal die Sorge geäußert haben, wenn die ostasiatischen Länder so viel disziplinierter gegen die Seuche vorgingen und deswegen auch die wirtschaftlichen Einschränkungen früher zurücknehmen könnten, würde Europa machtpolitisch ins Hintertreffen geraten.
Gesundheitsminister Jens Spahn glaubt, dass Russland und China gerade mit Impfstoffen Geopolitik betreiben. Beide beliefern zum Beispiel den EU-Beitrittskandidaten Serbien mit Impfstoffen. Auch die ungarische Regierung, die wegen rechtsstaatlicher Mängel von der EU kritisiert wird und enge Kontakte mit Moskau pflegt, bemüht sich sehr um Impfstoffe aus China und Russland.
Spahn warnte in einem DW-Interview: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den gleichen Fehler machen wie in der Finanzkrise." Statt einen europäischen Investor zu finden, sei damals der griechische Hafen Piräus an China verkauft worden. "Das Gleiche gilt jetzt bei den Impfstoffen. China, Russland machen mit diesen Impfstoffen auch Außenpolitik, versuchen Einfluss zu gewinnen." Die EU müsse "aus humanitären Gründen, aber auch aus "eigenen außenpolitischen geostrategischen Interessen" ihre Nachbarschaftsregionen "mitdenken".
Denkfabrik-Leiter Gros wiegelt dagegen ab: "Die Bedeutung der 'Impf-Diplomatie' wird oft weit überschätzt. Die Dankbarkeit der Empfängerländer ist meist begrenzt und kann sich umkehren, wie man bei der 'Masken-Diplomatie' Anfang 2020 gut beobachten konnte". Damals hatte China öffentlichkeitswirksam Gesichtsmasken und andere medizinische Ausrüstung an viele Ländern der Welt geliefert.
Aber etwa in den Niederlanden mussten im vergangenen März Zehntausende fehlerhafte Atemschutzmasken eines chinesischen Herstellers zurückgerufen werden, die an Krankenhäuser im ganzen Land ausgeliefert worden waren. Zugleich wurde China kritisiert, weil die Pandemie von dort ausgegangen ist, Peking aber erst spät informiert hat.
Erneut bieten sich Russland und China an
Jetzt, wo die EU wegen der Verzögerungen ihrer Impfkampagne unter Druck steht, wenden sich erneut die Blicke nach Osten. Die heftig kritisierte Kommissionspräsidentin lässt erkennen, dass sie für eine Zulassung russischer und chinesischer Präparate offen ist, wenn ausreichend Daten dazu vorliegen.
Vor allem das russische Vakzin Sputnik V hat inzwischen gute Chancen auf einen Einsatz in der EU. Das könnte die bestehenden Engpässe beseitigen helfen, könnte aber auch als Eingeständnis europäischer Schwäche gesehen werden.
Dennoch zieht von der Leyens Vorgänger Juncker ein insgesamt positives Fazit bezüglich des Umgangs der EU mit der Pandemie: "Wenn Sie mich heute vor einem Jahr gefragt hätten, ob es denkbar wäre, dass die Europäische Union als solche Schulden aufnimmt, um dieser Pandemie Herr zu werden, oder dass die Europäische Kommission für die Impfstoffbeschaffung zuständig wäre, dann hätte ich gesagt: Das wird nie passieren. Die EU als solche ist besser, schlagkräftiger, als die Mitgliedsstaaten individuell betrachtet gewesen wären."
Für Daniel Gros ist die Bilanz eher gemischt. Die Impfstoffbeschaffung sei ein "Desaster"; die umfangreichen EU-Finanzhilfen hätten die EU aber "wirtschaftlich und politisch sehr gestärkt".