Corona als Herausforderung für Irans Theokratie
17. September 2020Für die Gläubigen unter den iranischen Schiiten war es eine Enttäuschung: Sie dürfen nicht an den Prozessionen zum schiitischen Gedenkfest Arbain im Irak teilnehmen, das in diesem Jahr auf den 7. Oktober fällt. So hatte es Anfang September Staatspräsident Hassan Rohani verkündet. An dem besagten Feiertag - er markiert das Ende der vierzigtägigen Trauerzeit um Hussein, den Schwiegersohn des islamischen Religionsstifters Mohammed - reisen normalerweise Millionen iranische Pilger in die irakischen Städte Nadschaf und Kerbala. In letzterer wurde Hussein der Überlieferung zufolge im Jahr 680 in einer Schlacht getötet. Seitdem ist sie eine der heiligen Stätten des schiitischen Islam.
Chamenei stellt sich hinter Gesundheitsexperten
Was Veranstaltungen im Inland betrifft, so hatten die iranischen Behörden die Gläubigen dieses Jahr zur Vorsicht ermahnt. Zwar wurden die Feierlichkeiten zu Aschura, dem Todestag Husseins, zugelassen, allerdings unter Sicherheitsauflagen (Titelfoto). Sie fanden in diesem Jahr vom 28. bis 29. August statt. Alle religiösen Zeremonien und Versammlungen hatten den von den Gesundheitsexperten vorgelegten Empfehlungen zu entsprechen.
Der religiöse Führer des Landes, Ali Chamenei, gab die Richtung vor. "Was von der Nationalen Task Force zur Bekämpfung des Coronavirus angekündigt wird, muss während der Trauerzeit befolgt werden", hatte er zu Beginn des Trauermonats Muharram erklärt. "Ich rate allen Trauernden, sich an die Richtlinien zu halten. Ansonsten wird es eine große Katastrophe geben", warnte Chamenei. Ihn hatten die Staatsmedien allein sitzend und mit Maske bedeckt in einem Gemeindesaal gezeigt, wo er einer Predigt lauschte.
Regime benötigt religiöse Feste als Bestätigung
Einschränkungen der religiösen Feierlichkeiten aufgrund der Pandemie sind für die iranische Führung allerdings eine heikle Angelegenheit. Denn bereits im Namen "Islamische Republik Iran" bekennt sich das Land zu seinem religiösen Fundament. Seine Verfassung gründet auf der Scharia, die entscheidenden Machtpositionen werden von Geistlichen besetzt. "In der Öffentlichkeit ist die Religion erzwungenermaßen omnipräsent", sagt der am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen lehrende Politologe Behrouz Khosrozadeh, "wenn auch oft scheinheilig und nur der Form halber."
Insbesondere das Aschura-Fest wird immer wieder als Ausweis schiitischer Authentizität propagiert. So würdigte die der Regierung nahestehende Zeitung "Tehran Times" in ihrer Ausgabe vom 4. September das Fest als "Gipfel des moralischen Prinzips, wo die Perfektion des menschlichen Charakters, die Erhabenheit der Geduld und die Leuchtkraft der Führung" gefeiert werde. Damit sei es ein Gegenentwurf zur "künstlichen Welt von US-Präsident Donald Trump".
Politologe Khosrozadeh bezweifelt allerdings, dass die Instrumentalisierung der Religion ihren Zweck im erwünschten Ausmaß erfüllt: "Religion und politische Macht sollen sich durch solche sogenannten 'Massenveranstaltungen' ständig festigen. Diese Rechnung geht aber nur für die eigene Klientel auf, welche die absolute Minderheit der Bevölkerung darstellt."
Viele Iraner für Trennung von Religion und Staat
Dass viele Iraner für eine stärkere Trennung von Staat und Religion sind, geht aus einer aktuellen Umfrage des auf den Iran spezialisierten demographischen Instituts Gamaan an der Universität Tilburg hervor. Demnach sind 68 Prozent der befragten Iraner der Ansicht, religiöse Vorschriften sollten von der staatlichen Gesetzgebung getrennt werden. Dies solle auch dann gelten, wenn die Gläubigen über eine parlamentarische Mehrheit verfügten. Nur 14 Prozent sind der Ansicht, das nationale Recht solle durchgehend mit religiösen Vorschriften übereinstimmen. Knapp über die Hälfte der Befragten sind dafür, dass ihre Kinder in der Schule unterschiedliche Glaubensrichtungen kennenlernen. 72 Prozent der Befragten sind gegen den Kopftuchzwang für Frauen in der Öffentlichkeit.
Die Pandemie könnte solche gegen die Theokratie gerichteten politischen Einstellungen der Bürger verstärken, meint der iranisch-niederländische Religionswissenschaftler Pooyan Tamimi Arab von der Universität Utrecht. Denn je deutlicher werde, dass ein wissenschaftlich-rationaler Ansatz zu ihrer Bekämpfung nötig ist, desto stärker verlören religiöse Deutungen der Pandemie an Überzeugungskraft, und damit indirekt auch die religiöse Legitimierung der Führung des Landes.
Ähnlich sieht es Behrouz Khosrozadeh, Herausgeber des im Frühjahr dieses Jahres erschienenen Buches "Iran der Destabilisator: 41 Jahre Islamische Republik, wie lange noch?". Zwar hätten sich die religiös motivierten Anhänger der Regierung durchgesetzt, indem sie die Aschura-Feierlichkeiten, wenn auch unter Auflagen, gegen die Einwände von Skeptikern stattfinden ließen. Doch ihr Sieg könnte langfristig in Enttäuschung münden, glaubt Khosrozadeh: Der Glaube vieler Iraner an die Kompetenz der Führung habe durch die Pandemie ebenso gelitten wie der an die göttliche Inspiration dieser Führung.