"Ich begann, über mich und meine Welt zu erzählen"
20. September 2019DW: Man hat Sie hierher eingeladen, um über Ihr Schreiben zu diskutieren. Sie persönlich haben schon sehr jung mit dem Lesen und Schreiben begonnen: Welche Geschichten wollten Sie erzählen?
Chimamanda Ngozi Adichie: Als ich anfing zu schreiben, war ich vielleicht 5 Jahre alt. Und ich schrieb die Geschichten, die ich las - hauptsächlich Kinderbücher aus England. Ich lebte in einer kleinen Stadt in Nigeria, in einer Universitätsgemeinde. Ich hatte noch nie Schnee gesehen und wusste nicht, was ein Apfel ist, aber ich schrieb Geschichten, in denen Kinder im Schnee spielten und Äpfel aßen, denn das geschah in den Büchern, die ich las. Es dauerte also eine Weile, bis ich anfing, über meine eigenen Erfahrungen und meine eigene Welt zu schreiben. Es ging los, als ich ein Teenager war. Da begann ich, über mich und über meine Welt zu erzählen.
Nach ersten Romanen, die in Nigeria spielten und von der Geschichte des Landes handelten, haben Sie sich "Americanah" (ihr 2013 erschienener Roman/Anm.d.Red.) zugewandt. Als afrikanische Autorin haben Sie über die US-Gesellschaft geschrieben. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Gute Frage. Ich glaube, es hat mich befreit. "Americanah" ist ein Buch, das ich schreiben wollte, aber nicht auf die übliche Weise: Nicht als Geschichte von Einwanderern aus Afrika, die Krieg und Armut entfliehen, sondern von Menschen, die einfach mehr wollen, die Träume haben, eben wie Menschen immer und überall.
Ich wollte diese Geschichte erzählen, weil es das ist, was ich kenne. Was nicht heißt, dass all die anderen afrikanischen Geschichten unwichtig wären. Aber die Bandbreite an afrikanischen Geschichten, die erzählt werden wollen, ist einfach größer als viele meinen.
Als Sie als Studentin in die USA kamen, hatten Sie mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Ähnlich ergeht es Ihrem Hauptprotagonisten in "Americanah". Aber das spielte sich in einer Zeit des Aufstiegs von Obama ab. Inzwischen regiert Donald Trump, was die Lage für viele Menschen nicht einfacher macht. Sehen Sie Licht am Ende des Tunnels - ein Amerika nach Trump?
Nein. Aber ich tue mich schwer mit solchen Einschätungen. Noch vor fünf Jahren hätte ich mit diesem Trump nicht im Geringsten gerechnet. Aber jetzt ist er Realität. Deshalb widerstrebt es mir, über die Zukunft zu spekulieren. Es könnte sein, dass er wiedergewählt wird. Ich denke, Trump ist genauso Amerika wie Obama Amerika ist. Und ich trauere der Idee nach, die ich früher von Amerika hatte.
Die politische Debatte in den USA lässt wenig Hoffnung zu. Wir leben von Tag zu Tag. Aber wenn ich die Nachrichten lese, bin ich immer ein bisschen besorgt, weil ich mich frage: "Was jetzt?!" Es herrscht ein Gefühl von Unsicherheit. Da hat jemand sehr, sehr viel Macht, der aber überhaupt nicht berechenbar ist.
Die Bewegung Black Lives Matters (Internationale Bewegung, die sich gegen Gewalt gegen Schwarze einsetzt / Anm.d.Red.) scheint Veränderungen auf kultureller Ebene erreicht zu haben. Die Geschichten der Afroamerikaner sind in der Literatur und im Hollywood-Film sichtbarer als früher. Würden Sie das unterschreiben?
Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Aber ich kann das nicht wirklich feiern, denn es ist eine Reaktion auf etwas Schreckliches. Schöner wäre es gewesen, mehr Sichtbarkeit von schwarzen Menschen zu sehen - ohne einen rassistischen Präsidenten.
Wenn wir den Erfolg daran messen, welche Geschichten zutage treten, dann ja - dann ist es ein Zeichen von Erfolg. Aber ich bezweifle, dass es sich um einen grundlegenden Wandel handelt. In den USA bleibt viel zu tun. Mir scheint, die USA wissen noch zu wenig über ihre Geschichte. Ich meine nicht die Sklaverei - sondern die Zeit danach. Wird Amerikas nächster Präsident einer sein, der nicht rassistisch ist? Wie würde sich das auf die afroamerikanischen Geschichten auswirken?
Auf der letzten Frankfurter Buchmesse haben Sie die Bedeutung der Literatur in schwierigen Zeiten betont. Welche Rolle spielen dabei die Schriftsteller? Warum, meinen Sie, sind Geschichten wichtig?
Weil ich nicht leben möchte, ohne lesen zu können. Umso wichtiger ist es, dass die Geschichtenerzähler weitermachen. Das hat Menschen immer in Bewegung gehalten. Wir sind vom Lagerfeuer aufgestanden und schreiben jetzt Bücher. Du bist nicht allein auf der Welt. Und menschliche Gefühle sind universell.
In einer Welt, in der es nicht nur darum geht, dass der US-Präsident ungewöhnlich ist, sondern in der es auch diesen Rechtsruck in Europa gibt, fühlt man sich sehr unsicher. Da ist es um so wichtiger, Geschichten von Menschen zu erzählen, gar nicht unbedingt über Politik. Ich lese viel Poesie, weil ich es nach dem Lesen der Nachrichten brauche, mich an einfache Dinge zu erinnern. Die Opfer, die ein Elternteil für ein Kind bringt; was es bedeutet, Herzschmerz zu erleben. Hoffnung, Liebe- solche Dinge.
In Nigeria kennt man Sie als Schriftstellerin, aber ebenso als Aktivistin und Feministin. Sie kämpfen für LGBT-Rechte (Die Abkürzung LGBT kommt aus dem Englischen und steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender/ Anm.d.Red). Wie reagieren Ihre Landsleute darauf?
Nicht gut. Aber eigentlich sehe ich mich gar nicht als Aktivistin, sondern als jemand mit einer Meinung. Manchmal fragen mich die Leute, dann teile ich meine Meinungen. Aktivismus ist etwas sehr Edles, ich aber bin wirklich nur eine Schriftstellerin. Ich möchte zu Hause bleiben, um Gedichte und Träume zu schreiben. Aber es gibt Dinge in der Welt, die mich wütend machen, und dann versuche ich, etwas zu verändern.
In Nigeria, zum Beispiel, ist es ein Verbrechen schwul zu sein. Über Schwulsein zu schreiben und zu sagen, dass man schwul ist, ist ein Verbrechen. Ich finde, das ist unmenschlich! Menschen sollten nicht dafür bestraft werden, dass sie sind, wer sie sind! Darüber habe ich öffentlich gesprochen und es gab jede Menge Gegenreaktionen. Die Leute sagten, ich sei unafrikanisch...
Auch was den Feminismus angeht, gibt es viel Gegenwind. Nigeria ist, was das angeht, sehr interessant. Denn einerseits gibt es Dinge, bei denen die Menschen ziemlich fortschrittlich sind. Aber es gibt eben auch diese stark konservative Grundstimmung. Zum Beispiel wird Ihnen jeder in Nigeria sagen: "Klar sollten Frauen arbeiten." Aber die gleichen Leute denken, der Erfolg einer Frau wird erst von ihrem Mann ermöglicht. Eine Frau muss sagen: "Ich bin der CEO einer Bank. Aber meine wichtigste Rolle ist es, für meine Familie zu kochen."
Der Gegenwind, den ich bekomme, gründet meiner Ansicht nach darin, dass ich grundlegende Dinge in Frage stelle. Ich sage, Frauen und Männer sind gleichberechtigt. So etwas mögen die Leute nicht.
Das Gespräch führte Ulrike Sommer.
Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren. 2003 erschien ihr Debütroman "Purple Hibiscus" (dt. 2005, "Blauer Hibiskus"). Weltweite Berühmtheit erlangte sie mit "Americanah". Der Roman wurde unter anderem von der "New York Times" in die Liste der zehn besten Bücher des Jahres aufgenommen.