Cherson: Verliert Russland seinen Brückenkopf?
21. Oktober 2022Russlands Krieg gegen die Ukraine steht wohl an einem Wendepunkt. Es gibt immer mehr Hinweise, dass die von Russland besetzte Stadt Cherson tief im Süden der Ukraine zurückerobert werden könnte. Während die ukrainische Armee ihre Offensive in der Region verstärkt, begann Russland in den vergangenen Tagen, Zivilisten und Besatzungsverwaltung aus der Stadt am rechten Ufer des Dnipro-Flusses auf das linke Ufer zu bringen. Bis zu 60.000 Menschen könnten betroffen sein, heißt es in russischen Medien. Wie viele noch bleiben ist unklar. Nach ukrainischen Angaben haben seit dem russischen Einmarsch bereits mehr als eine halbe Million Einwohner das Gebiet verlassen.
Ebenfalls unklar ist, wie viele der Menschen jetzt dazu gedrängt werden, nach Russland zu gehen. Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, meinte in einem DW-Interview, Moskau könne den jüngst ausgerufenen Kriegszustand in den annektierten Gebieten nutzen, um Teile der Bevölkerung nach Russland zu verschleppen. "Es ist auch nicht sicher, wie lange diese Gebiete noch unter russischer Besatzung bleiben. Wir erleben gerade in Cherson, dass die dortige Militärverwaltung die Zivilbevölkerung evakuieren will, wahrscheinlich gegen deren Willen", sagt Krause. "Ich fürchte, dass dies das eigentliche Motiv dahinter ist."
Es werden vor allem Schiffe und Pontonübergänge benutzt, denn die ukrainische Armee hat die wenigen Brücken gezielt beschädigt. So wurde in der Nacht zu Freitag die Antoniwskij-Brücke, die größte in Cherson, erneut mit Raketen beschossen. Russische Quellen berichteten von drei Toten und mehreren Verletzten. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Ein Brückenkopf, um Odessa anzugreifen
Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Von einer "entscheidenden Situation vor dem Winter" spricht der österreichische Oberst und Militärhistoriker Markus Reisner. Für die Ukraine sei "die Offensive in Cherson die wichtigste und entschiedenste". Russland sei es dort zu Beginn des Einmarsches im Februar gelungen, den Dnipro-Fluss zu überschreiten. Selbst wenn die Situation im Moment nicht so aussehe, vermutet Reisner, könnten die Russen diesen Brückenkopf künftig womöglich für einen Vorstoß Richtung Odessa nutzen. Damit würde Russland den Zugang zum Schwarzen Meer komplett kontrollieren und aus der Ukraine einen Binnenstaat machen. Kiew will das unbedingt verhindern.
Der Fluss Dnipro ist der größte und wichtigste in der Ukraine. Der mächtige Strom ist durchschnittlich mehr als zwei Kilometer breit. Der Dnipro teilt die Ukraine in einem nach Osten gerichteten Bogen in zwei Hälften und bildet eine natürliche und schwer überwindbare Barriere. Die vielen Stauseen mit ihren Wasserkraftwerken, die vielfach noch aus Sowjetzeiten stammen, machen ihn außerdem zu einem wichtigen Stromlieferanten.
Bisher konnte Russlands Armee nur im Süden - rund um Cherson - den Dnipro überqueren und dort einen Brückenkopf errichten. Die vor kurzem zusammen mit drei weiteren Gebieten annektierte Region Cherson wurde bereits in den ersten Kriegstagen fast vollständig besetzt. Sie spielt für Russland eine besonders wichtige Rolle, weil darüber der einzige Landweg zur 2014 annektierten Krim verläuft. Ein Kanal versorgt die klimatisch sehr trockene Halbinsel mit Wasser aus dem Dnipro. Die Ukraine hat den Kanal 2014 gesperrt; Russland nahm ihn nach dem Einmarsch wieder in Betrieb.
Seitdem sind russische Truppen kaum noch vorgerückt. Im Gegenteil. Die ukrainische Armee konnte zuletzt immer mehr kleinere Ortschaften bei Cherson befreien. Das lag auch daran, dass die Ukraine seit Juli gezielt Brücken über den Dnipro beschossen und damit die Versorgung russischer Truppen entscheidend gestört hat. Markus Reisner sieht zwei Indikatoren, dass Russland den Brückenkopf um Cherson aufgeben könnte: einerseits die angekündigte Evakuierung der Zivilisten, andererseits militärische Umgruppierungen, von denen in sozialen Netzwerken auf russischer Seite die Rede sei.
Putin soll Rückzug verboten haben
Das Problem der russischen Armee seien "die Nadelöhre der Brücken", so Reisner. Die normalen Brücken seien von der ukrainischen Armee "schwerstbeschädigt" worden, die Pontonbrücken reichten nicht aus. "Wenn man sieht, dass die Strategie der Russen ist, sich vor dem Winter an einer starken Linie zu konsolidieren, scheint es logisch, dass sie möglicherweise das Westufer aufgeben und zurück auf das Ostufer gehen", sagt der Militärexperte. Die Konsequenz daraus wäre, dass Russland von Cherson aus die benachbarte Stadt Mykolajiw und dann Odessa nicht angreifen könnte - zumindest vorerst.
Manche Beobachter sehen die jüngsten Äußerungen des neuen russischen Befehlshabers in der Ukraine, General Sergej Surowikin, als Bestätigung für einen möglichen Rückzug. Surowikin sagte in einem Fernsehinterview, die Lage sei "nicht einfach", wobei er "schwierige Entscheidungen" nicht ausschloss. Das würde eine Änderung der bisherigen Haltung des Kremls bedeuten. Erst Ende September berichtete die New York Times, Russlands Präsident Wladimir Putin habe seinen Militärs verboten, Cherson aufzugeben.
Droht die Zerstörung eines Wasserkraftwerks?
Vor diesem Hintergrund bereitet sich Russland darauf vor, die strategisch und symbolisch wichtige Stadt zu verteidigen. Gerätselt wird, welche Rolle dabei das Wasserkraftwerk von Kachowka wenige Kilometer flussaufwärts spielen könnte. General Surowikin sagte, die Ukraine könnte den Damm mit Raketen beschießen. Kiew bestreitet das. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, den Damm vermint zu haben und ihn sprengen zu wollen. Er warnte vor einer "historischen Katastrophe". Eines scheint jedenfalls jetzt schon klar: Die Schlacht um Cherson dürfte auch ein Kampf am und um Wasser werden.