Chaos, Tote, Gewalt: Peru im Ausnahmezustand
26. Januar 2023In normalen Zeiten würde Alejandro García gerade mit deutschen Touristen zum Machu Picchu hochkraxeln. Der 39-jährige Touristenführer würde dort, in perfektem Deutsch, seiner Reisegruppe alle Geheimnisse der berühmten Ruinenstadt der Inkas offenbaren. Und der Peruaner würde den Deutschen den perfekten Platz für einen Schnappschuss zeigen, mit dem imposanten Weltkulturerbe im Hintergrund. Sein Motto ist schließlich schon seit Jahren, seine Heimat von der allerbesten Seite zu zeigen.
Doch in Peru sind gerade keine normalen Zeiten, ganz im Gegenteil. Mehr als 60 Tote zählt die "Defensoría del Pueblo", die staatliche Ombudsstelle für die Verteidigung von Bürgerrechten, seit Beginn der Proteste im Dezember in dem südamerikanischen Land. Kollateralschaden der Staatskrise ist die peruanische Tourismusindustrie, die 2020 mehr als 877 Millionen Euro erwirtschaftete und gerade mehr oder weniger brach liegt.
Mittendrin ist Alejandro García, der gegenüber der DW sagt: "Wir verlieren gerade Millionen Soles, vor allem leidet aber unser Image in der Welt, das wir jahrelang mühevoll aufgebaut haben. Wir haben keine Arbeit und leben von den wenigen Ersparnissen von 2022."
Machu Picchu erneut gesperrt
Für Januar und Februar gingen García einige Aufträge durch die Lappen, viele Länder warnen gerade davor, in das krisengeschüttelte Land zu reisen. Es ist bereits der dritte Tiefschlag für ihn in kürzester Folge: zuerst die Corona-Pandemie, die Peru wie kaum ein anderes Land erschütterte, mit einer der höchsten Sterblichkeitsraten weltweit. Dann der russische Angriff auf die Ukraine, der den Europäern aufgrund der steigenden Energiepreise ein dickes Loch im Portemonnaie bescherte, so dass die sich seitdem Fernreisen dreimal überlegen.
Und nun die täglichen Demonstrationen gegen Präsidentin Dina Boluarte, mit Toten, Hunderten Verletzten und Straßenblockaden. García fragt sich: "Wer schützt die Millionen Peruaner, die arbeiten wollen, die Steuern bezahlen und die Tag für Tag darum kämpfen, ihre Familien zu ernähren. Wer hört uns?"
Das peruanische Kulturministerium hat jetzt erneut den Zugang nach Machu Picchu gesperrt. 418 Touristen wurden nach Cusco gebracht, nachdem Demonstranten die Zugstrecke zerstört hatten. Nicht zum ersten Mal, schon Mitte Dezember hatten Hunderte Touristen rund um die Ruinenstadt festgesessen.
Alejandro García muss weiterhin von der Hand in den Mund leben, seine ganze Wut richtet sich gegen die Demonstrierenden: "Diese Menschen haben Ideen der radikalen Linken, das einzige, was sie sehen wollen, sind Zerstörung und Tote, sie wollen keinen Dialog. Es ist ja richtig, dass wir eine neue Verfassung brauchen, aber das, was diese radikale Gruppe von Personen fordert, befördert uns nur wieder zurück in die Armut."
Gewaltspirale dreht sich immer weiter
Die Menschen, die Alejandro Garcias Puls höher schnellen lassen, kommen aus dem armen Süden des Landes und sind zu einem Großteil Quechua oder Aymara. Es tobt also auch ein Kampf von Arm gegen Reich, von der jahrzehntelang unterdrückten indigenen Bevölkerung gegen die weiße Oberschicht.
Neben einer verfassungsgebenden Versammlung fordern einige Demonstranten die Auflösung des Kongresses, andere die Freilassung des inhaftierten Ex-Präsidenten Pedro Castillo, und alle den sofortigen Rücktritt von Interims-Staatschefin Dina Boluarte, die diesen weiterhin kategorisch ausschließt. Sie haben tatkräftige Unterstützung: Gewerkschaften, Bauernverbände, Umweltschützer, linke Parteien und Studenten haben sich der Protestbewegung angeschlossen.
Unter den vielen Toten ist ein Polizist, der gelyncht wurde. Ein 20 Monate altes Baby, dessen Mageninfektion wegen der Straßenblockaden nicht rechtzeitig im Krankenhaus behandelt werden konnte. Vor allem aber sind es zivile Opfer, die von Sicherheitskräften erschossen wurden. Laut Militär und Polizei habe es sich dabei um "Terroristen" gehandelt - was die Wut der Demonstranten nur noch weiter schürt.
Die Europäische Union hat die Gewalt in Peru kritisiert und bezeichnete das Vorgehen der Sicherheitskräfte als unverhältnismäßig. UN-Generalsekretär Antonio Guterres forderte die peruanischen Behörden auf, die Todesfälle schnell, effektiv und unabhängig aufzuklären.
Ausschreitungen in der Hauptstadt Lima
Kein Wunder, dass in dieser aufgeheizten Stimmung in der Hauptstadt Lima nun erneut die Gewalt eskalierte. In der Hauptstadt kam es zu Ausschreitungen und chaotischen Szenen. 6800 Sicherheitskräfte standen zum Schutz des Präsidentenpalastes 3500 Protestierenden gegenüber. Es hieß Tränengas gegen Steine, unter den Verletzten waren auch Journalisten, Minderjährige und Krankenschwestern. Und Cruz Silva.
Die DW erreicht die Menschenrechtsanwältin in der Notaufnahme eines Krankenhauses, eine Magnetresonanztherapie soll Aufschluss darüber geben, ob sie sich einen Muskelfaserriss in der Wade eingefangen hat. Silva sagt, sie konnte tagelang nicht gehen, nachdem ihr ein Polizist bei den Protesten mit seinem Schlagstock auf die Beine gedroschen habe. Die Juristin hat beim Justizministerium bereits Klage eingereicht. Diese Gewalt sei in Peru gang und gäbe, sagt sie:
"Ich bekomme Anrufe von Inhaftierten, die von Polizisten geschlagen und auf den Boden geworfen wurden. Es gibt Beleidigungen, Einschüchterungsversuche und grundlose Verhaftungen. Bei den vielen Toten müssen wir wohl von Hinrichtungen ausgehen." Auf der anderen Seite gebe es auch Gewalt gegen Polizisten, die entführt und wie in einem Fall gelyncht wurden. "Die Gewalt geht nicht nur von einem Akteur aus. Es ist derzeit leider außer Kontrolle."
Cruz hat auch eine Erklärung für diese Exzesse. Zum einen gehöre diese Gewalt zum Alltag in Peru, sie sei jeden Tag präsent. Außerdem hätte sich der Staat aus einigen Regionen seit langem zurückgezogen. Vor allem in Momenten der Krise würden dort eigene Regeln gelten, Morde blieben unbestraft. Und schließlich sei da noch der Rassismus.
"Die Diskriminierung ist sehr stark. Und wenn es mehr als 50 Tote gibt, die aber nicht aus der Hauptstadt, sondern aus Regionen kommen, wo viele Indigene leben, dann zählen sie quasi nicht. Nach dem Motto: Nicht so schlimm, wenn es nicht in Lima passiert."
Neuwahlen noch in diesem Jahr als Ausweg aus der Krise
Doch wie soll Peru aus dieser Krise kommen, angesichts der immer verhärteteren Fronten? Erste Ansätze hätte Adriana Urrutia, Präsidentin der Nichtregierungsorganisation Transparencia, die sich seit fast 30 Jahren für Pluralismus und Demokratie im Land einsetzt. Zunächst einmal, so die Professorin für Politikwissenschaften, müsse die Regierung ihre Strategie ändern, wie sie mit den Protesten umgeht. "Bürger müssen ihr Recht auf friedlichen Protest ausüben dürfen. Anderseits müssen diejenigen, die für Gewalt, Vandalismus und Angriffe auf öffentliches Eigentum verantwortlich sind, sanktioniert werden."
Peru müsse wieder miteinander reden, fordert Urrutia, nur mit Dialog komme das Land aus der Krise heraus. Diese Gespräche müssten von regionalen Gouverneuren moderiert werden, die zum einen wüssten, wen sie aus der Zivilbevölkerung zu den Dialogen einladen und zum anderen einen gewissen Rückhalt bei den Menschen genießen. Der alles entscheidende Schritt sei aber das, was auch Präsidentin Dina Boluarte gegenüber der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) jetzt ins Spiel brachte: schnelle Neuwahlen.
"Noch in diesem Jahr, 2023, weil die Bevölkerung sich von vielen Politikern im Parlament nicht mehr repräsentiert fühlt. Um das politische Angebot zu vergrößern, muss die Einschreibung für neue Parteien vereinfacht werden", sagt Urrutia. "Damit würden die Proteste zwar nicht von einem Tag auf den anderen aufhören, aber es würde die Situation sicherlich ein wenig beruhigen."