Carles Puigdemont: Held oder Spalter?
21. Oktober 2017"Er wäre bereit, für die Unabhängigkeit ins Gefängnis zu gehen", sagt Salvador Clara. Der 55-Jährige ist mit Carles Puigdemont in die Schule gegangen. Clara zeigt Bilder auf seinem Handy. Noch immer treffen sie sich ab und an zum Austausch - zuletzt im katalonischen Regionalparlament in Barcelona. Danach seien sie Essen gegangen und hätten über die Unabhängigkeit diskutiert. Salvador Clara ist der Stellvertreter der Bürgermeisterin in dem kleinen Städtchen Amer. Hier wurde Puigdemont am 29. Dezember 1962 geboren. In Amer, wo man sich seit fast einem Jahrhundert die Brötchen in der Bäckerei der Familie Puigdemont holt, haben beim umstrittenen Unabhängigkeitsvotum fast 97 Prozent der Wahlbeteiligten mit "Ja" gestimmt.
Schöngeist und Sprachgenie
Sein Freund "Carles" sei sehr belesen: Geschichte, Sprache und Philosophie seien immer seine Stärke gewesen. "Er steht treu zu seinen Freunden, er ist intelligent, ein großartiger Redner und ein Mann des 21. Jahrhunderts", sagt Clara. Schon seit der Jugend sei die Loslösung von Spanien sein Thema gewesen, analysiert der Vize-Bürgermeister.
Als zweiter Sohn einer zehnköpfigen Bäckerfamilie war ihm der Erfolg auf jeden Fall nicht in die Wiege gelegt. Nach dem Abitur zog Puigdemont in die nahe gelegene Stadt Girona. Dort studierte er Philosophie, wurde Journalist einer katalanischen Zeitung, wo er am Ende als Chefredakteur arbeitete. Anschließend gründete er die offizielle katalanische Nachrichtenagentur. Puigdemont spricht fünf Sprachen. Noch heute wohnt er mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Girona.
Durch einen "Unfall" zur Macht
Politisch gilt er eher als Quereinsteiger. So war er von 2011 bis 2016 Bürgermeister Gironas. Zum Amt des mächtigsten Manns Kataloniens ist er vor mehr als anderthalb Jahren quasi über Nacht gekommen. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers war Puigdemont wohl der einzige gemeinsame Nenner des Regierungsbündnisses. Das weiß er auch selbst. Es sei ein "Unfall, das Ergebnis von Umständen" gewesen, dass er überhaupt dieses Amt habe, erzählte Puigdemont dem deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".
In sein Amt startet er mit großen Worten: "Es sind keine Zeiten für Feiglinge", so Puigdemont bei seiner ersten Rede. Seinen Worten lässt er Taten folgen. Spätestens seit dem umstrittenen Referendum zur Unabhängigkeit am 1. Oktober schaut die Weltöffentlichkeit gebannt auf Katalonien und auf jede Bewegung von Carles Puigdemont. Der soll Gerüchten zufolge auf dem Weg zum Wahlamt unter einer Brücke das Auto gewechselt haben. Ganz zum Ärger seiner spanischen Beschatter, die ihn mit dem Hubschrauber verfolgt haben sollen.
Zwischen allen Stühlen
Mit dem Referendum und dem harten Vorgehen der spanischen Polizei gegen Wähler erreicht der Streit zwischen der Nationalregierung in Madrid und den Politikern in Barcelona einen neuen Höhepunkt. Doch Puigdemont will die Unabhängigkeit nicht um jeden Preis und greift in die Trickkiste. Er unterschreibt die Unabhängigkeit, setzt sie aber sogleich wieder aus. Doch auch sein Widersacher in Madrid, Mariano Rajoy, kennt sich aus mit politischen Tricks. Anstatt auf das vermeintliche Gesprächsangebot Barcelonas einzugehen, setzt er auf Konfrontation und droht mit dem Artikel 155. Dieser ermöglicht unter anderem die Entmachtung einer Regionalregierung, wenn diese die Verfassung missachtet. Der Einsatz von Artikel 155, der bisher nie zur Anwendung kam, ist in Spanien umstritten.
Doch nicht nur mit Madrid muss Puigdemont klarkommen, auch innerhalb seines Bündnisses knirscht es an allen Ecken. Die Koalition "Gemeinsam für das Ja" besteht aus Konservativen, Liberalen, Linksrepublikanern und Radikallinken. Vor allem für die Linken empfanden Puigdemont als zu wenig aggressiv. Sie forderten die Unabhängigkeit so schnell wie möglich. Wie sich Puigdemont den Weg dorthin zum Schluss noch vorstellte, blieb allerdings unklar. Seitdem dem Referendum äußerte sich dieser nur noch selten in der Öffentlichkeit.
Märtyrer oder politische Bedeutungslosigkeit
Fest steht aber wohl: Je härter der Konfrontationskurs Madrids, desto mehr profitieren die radikalen Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung. Nun also stehen die Zeichen auf Neuwahlen im Januar. Spaniens Zentralregierung hofft wohl, dass sich bis dahin die Wogen glätten und dann eine Konstellation an die Macht kommt, die gegen die Unabhängigkeit ist.
Mit diesem Ausgang wäre Puigdemont dann wohl erst mal in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden. Gut möglich aber auch, dass er oder ein Nachfolger nach Neuwahlen die Mission Unabhängigkeit gestärkt fortführen. In einem Interview mit dem "Spiegel" vor dem Referendum hatte Puigdemont einer erneuten Kandidatur aber eine Absage erteilt: "Ich will wieder ein normales Leben führen. Eine neue Generation soll weitermachen", sagte er noch am 21. September. Ob er seine Meinung ändert? Für seinen Schulkameraden besteht kein Zweifel: "Carles" ist die beste Wahl: "Er sollte die Unabhängigkeitsbewegung weiter führen und die Einheit garantieren", ist Salvador Clara überzeugt.