Cannes 2024: Zwischen Polemik und Politik
25. Mai 2024"Dies ist mein 33. Festival in Cannes, und es ist bei weitem das schlechteste, das ich je gesehen habe", raunte mir ein müder australischer Kritiker bei einem Kaffee ins Ohr, als wir über die Höhen und vor allem die Tiefen des 77. Filmfestivals sprechen. Ich bin zwar "erst" zum 23. Mal dabei, aber ich muss zugeben, dass 2024 nicht gerade das glänzendste Jahr in der Geschichte des wichtigsten Filmfestivals der Welt war.
Auf dem Papier sah das Programm gut aus. Unter den neuen Filmen von Arthouse-Meistern waren David Cronenbergs philosophisches Horrorwerk "The Shrouds", Paolo Sorrentinos moderne Fabel "Parthenope", Yorgos Lanthimos' starbesetztes Werk "Kinds of Kindness" und Paul Schraders Vietnamkriegsdrama "Oh, Canada". Dann waren da noch die potenziellen Studio-Blockbuster von George Miller ("Furiosa: A Mad Max Story") und Kevin Costner, dessen "Horizons - An American Saga: Chapter 1" der erste Teil eines geplanten vierteiligen Western-Epos ist. Doch bei den meisten dieser Filme hatte man den Eindruck, dass die Regisseure einfach nur ihren Job gemacht haben.
Und dann war da noch "Megalopolis", Francis Ford Coppolas 120 Millionen Dollar (110 Millionen Euro) teure Science-Fiction-Extravaganz, an der der "Pate"-Regisseur seit 40 Jahren arbeitet. Der Film ist eine epische Neuinterpretation des römischen Imperiums in einem retrofuturistischen New York und verspricht sowohl ein Spektakel von Studiogröße als auch ein Arthouse-Klassiker zu werden.
Kino muss wieder politisch werden
Für den Cineasten ist "Megalopolis" ein herrlich albernes und absurdes Sammelsurium von Genres und Themen. Mal erinnert der Film mit seiner epischen Geschichte über amerikanischen Ehrgeiz und Hybris an "Citizen Kane". Mal wirkt er wie ein inspirierendes Video des Milliardärs Elon Musk, dann wieder wie eine High-School-Theaterproduktion. "Megalopolis" hat seine Momente - eine Szene durchbricht die vierte Wand, bringt also Leinwandhelden und Publikum zusammen auf eine Art und Weise, die kühn und wirklich revolutionär wirkt. Aber am Ende ist es ein überlanges Durcheinander.
Neben "Megalopolis" war der Film, der in Cannes die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, "The Apprentice": ein Blick auf das Phänomen Donald Trump mit Sebastian Stan als "The Donald" in der Hauptrolle, gedreht vom dänisch-iranischen Regisseurs Ali Abbasi. Er porträtiert den Aufstieg des ehemaligen US-Präsidenten im Amerika der 1980er-Jahre unter der Obhut des skrupellosen Anwalts Roy Cohn, gespielt von Jeremy Strong ("Succession").
Der Film kennt keine Tabus: Abbasi zeigt eine Szene, in der Trump seine erste Frau Ivana vergewaltigt, und er beschreibt anschaulich, wie Trump sich auf den OP-Tisch legt, um sich Fettpölsterchen absaugen zu lassen, oder seine Glatze verkleinern lässt.
Donald Trumps Aufstieg als Satire
Trumps Team, das den Film als "böswillige Verleumdung" bezeichnet, hat bereits mit einer Klage gedroht. Abbasi konterte: "Alle reden darüber, dass er viele Leute verklagt hat, aber sie reden nicht über seine Erfolgsquote" - und verteidigte seine Darstellung des ehemaligen und vielleicht zukünftigen US-Präsidenten.
"Es gibt keine nette metaphorische Art, mit der aufkommenden Welle des Faschismus umzugehen, es gibt nur die schmutzige Art", sagte der Regisseur nach der Premiere des Films in Cannes. "Ich glaube, das Problem mit der Welt ist, dass die guten Menschen zu lange geschwiegen haben", so Abbasi. "Deshalb ist es an der Zeit ist, Filme relevant zu machen. Es ist an der Zeit, Filme wieder politisch zu machen."
Körperhorror und Geschlechtsumwandlung
Die besten Filme in Cannes waren in diesem Jahr die politischen und polemischen. "The Substance" von der französischen Regisseurin Coralie Fargeat ist eine Art Kammerspiel über eine ältere Schauspielerin (Demi Moore), die durch einen jüngeren Star (Margaret Qualley) ersetzt wird. Die schaurige Besessenheit der Gesellschaft von Jugend und Schönheit wird hier mit blutigen Details widergespiegelt.
Fargeat bemerkte, dass die Gewalt im Film eine Metapher für die emotionale und körperliche Gewalt sei, die Männer Frauen antun - und die Frauen sich selbst antun, wenn sie unrealistischen Schönheitsidealen nachjagen. "Ich kenne keine Frau, die nicht an einer Essstörung leidet oder ihrem Körper auf andere Weise Gewalt antut", sagte Fargeat und fügte hinzu, sie habe sich entschieden, die Gewalt auf der Leinwand "auf extreme Weise zu zeigen, weil ich glaube, dass diese Gewalt sehr extrem ist".
"Anora" überzeugt die Jury
Auch der amerikanische Regisseur Sean Baker nimmt in "Anora" das Patriarchat und seinen vergifteten Umgang mit dem weiblichen Körper aufs Korn. Die Geschichte einer jungen Sexarbeiterin in Brighton Beach, Brooklyn, die sich in eine Liebesbeziehung mit dem Sohn eines russischen Oligarchen verstrickt, spielt sich wie eine Screwball-Komödie ab, doch die Aussage des Films über die Ausbeutung von Frauen tut dem Witz keinen Abbruch. Der temporeiche Film war der Jury die Goldene Palme wert. Jury-Vorsitzende Greta Gerwig sprach von einem "großartigen Film voller Menschlichkeit. Er hat uns mitgerissen".
Zum Publikumsliebling des Festivals avancierte der französische Filmemacher Jacques Audiard mit "Emilia Perez". Das Krimi-Musical spielt in Mexiko und erzählt die Geschichte einer Geschlechtsumwandlung. Zoe Saldana, Selena Gomez und die spanischen Transschauspielerin Karla Sofia Gascon brillieren in einer atemberaubenden Performance.
Flucht aus dem Iran, Premiere in Cannes
Mein Favorit für die Goldene Palme war "The Seed of the Sacred Fig" (etwa: "Die Saat der heiligen Feige") vom iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof. Vergangene Woche erst floh er zu Fuß über die Berge aus dem Iran, nachdem er wegen seiner politischen Filme und seines Engagements gegen das Regime in Teheran zu acht Jahren Haft verurteilt worden war. Er hat in Deutschland Zuflucht gefunden und wird zur Premiere seines Films nach Cannes kommen. Allein das verdient höchste Anerkennung.
Aber auch filmisch ist "The Seed of the Sacred Fig" ein Meisterwerk. Die Geschichte eines Untersuchungsrichters am iranischen Revolutionsgericht, der sich gegen seine eigene Familie wendet, während im ganzen Land Unruhen ausbrechen, ist eine zutiefst bewegende Studie darüber, wie autoritäre Politik auf tiefster, persönlicher Ebene infiziert und korrumpiert. Die Jury sah das wohl ganz ähnlich - und ehrte den mutigen Filmemacher mit einem Spezialpreis.
Aus dem Englischen adaptiert von Sabine Oelze. Der Artikel wurde nach der Preisvergabe aktualisiert.