Camerons Weg zur Einigung mit der EU
18. Dezember 2015Mit ausgreifenden Schritten kam der britische Premierminister David Cameron nach vier Stunden Abendessen mit seinen 27 EU-Kollegen ans Rednerpult. Er klammerte sich an das Pult als er versuchte, die abendliche Beratung über die britischen Wünsche nach einem neuen Verhältnis zur EU als Erfolg dazustellen. Das zu locker am Pult angebrachte Wappen des Premierministers rutschte, ohne das Cameron das bemerkte, immer weiter nach unten ab. Nach wenigen Minuten hing es nur noch an einer Ecke am sprichwörtlich seidenen Faden. Ist das schiefe Wappen ein Sinnbild für die Stimmung in der Gipfelrunde?
David Cameron sagt Nein. Er habe der ganzen Diskussion über britische Sonderwünsche vor einem angekündigten Referendum über den Verbleib in der Union neuen Schwung verliehen. "Die gute Nachricht ist, es gibt einen Pfad, der uns zu einer Übereinkunft führen kann. Da bin ich zuversichtlich, aber das bedeutet noch harte Arbeit." Und zwar bis Mitte Februar 2016. Dann soll beim nächsten EU-Gipfel entschieden werden.
EU-Referendum als Ventil in der Innenpolitik
Vor fast drei Jahren, im Januar 2013 hatte der britische Premierminister die Europäische Union aufgeschreckt, als er ankündigte, ein Referendum über den Verbleib der Briten in der EU ansetzen zu wollen. Damals meinte man in Brüssel, David Cameron müsse das tun, um die Europa-Skeptiker in seiner eigenen konservativen Partei zu besänftigen und sich die "United Kingdom Independence Party" (UKIP) vom Hals zu halten, die für einen sofortigen Austritt plädiert und in Großbritannien immer mehr Stimmen einsammelte. Mittlerweile hat der Premier mit dem angekündigten Referendum im Rücken eine Parlamentswahl gewonnen und die UKIP im Zaum gehalten. Aber jetzt muss der konservative Premier, der eigentlich für einen Verbleib Großbritanniens in der Union ist, das Referendum auch durchziehen, bis spätestens Ende 2017.
Vier Forderungen, eine davon eine harte Nuss
Von seinen kühnsten Thesen ist David Cameron inzwischen abgerückt. Bei monatelangen Vorgesprächen in den europäischen Hauptstädten hatte man ihm bedeutet, dass man Großbritannien zwar unbedingt in der EU halte wolle, aber viele der nur sehr schwammig formulierten britischen Wünsche einfach nicht zu erfüllen seien. Deshalb backt David Cameron jetzt kleinere Brötchen und hat dem Gipfel eine Liste mit nur noch vier Forderungen vorgelegt:
1. Er will den britischen Finanzmarkt vor zu viel Regulierung aus der Euro-Zone schützen, der Großbritannien nicht angehört. Mehr Wettbewerbsfähigkeit für die EU 2. Großbritannien will sich nicht mehr an die Formel aus den EU-Verträgen halten, dass Europa zu einer immer engeren Union weiterentwickelt werden soll. 3. Die nationalen Parlamente sollen mehr Mitspracherechte erhalten. 4. EU-Bürger, die sich in Großbritannien niederlassen, sollen erst nach vier Jahren die Sozialleistungen erhalten, die auch gebürtigen Briten zustehen.
Merkel für Vertragsänderungen "in der Zukunft"
Vor dem Gipfel hatte Cameron noch angriffslustig vom "Kampf für Britannien" fabuliert, am Ende sprach er von Lösungen, die man bis zum nächsten Treffen Mitte Februar finden könne. Das Wort Kompromiss allerdings vermied er. Zu Kompromissen haben aber fast alle anderen Regierungschefs Cameron aufgefordert, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Das wird, gerade bezüglich der 4. Säule, nicht ganz einfach, aber ich denke bei gutem Willen, kann man hier auch Wege finden, die den verschiedenen Anliegen gerecht werden", sagte Merkel am frühen Donnerstagmorgen.
Die Bundeskanzlerin baute Cameron eine kleine Brücke, um die wahrscheinlich nötige Änderung der EU-Verträge zu ermöglichen. Die Verträge sollten nicht jetzt geändert werden, sondern erst in einigen Jahren. Die Briten sollten mit dem reinen Versprechen, dass es so kommen werde, beruhigt werden. "Wir verschieben das in die Zukunft." Der britische Premier griff das Angebot dankbar auf und sagte in seiner Pressekonferenz, während sich sein Wappen schief legte, das sei vielleicht ein gangbarer Weg.
Ost-Europäer lehnen Camerons Forderung ab
Bei der Abschaffung von Sozialleistungen beißt der Brite bei vielen EU-Kollegen noch auf Granit. Das Prinzip "gleiches Recht für alle in der gesamten Union" ist heilig, erklärte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite kurz und knapp. "Die Freizügigkeit ist ein Grundwert der EU. Wir können eine Diskriminierung unseres Volkes nicht zulassen." Der Unmut der Briten bezieht sich hauptsächlich auf Zuwanderer aus den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Statistisch lässt sich der Verdacht, diese Gruppe bezöge mehr Sozialleistungen als gebürtige Briten, aber kaum nachweisen. "Drei Kapitel kann man unterstützen. Das fällt uns leicht. Da stimmen wir überein. Beim vierten Punkt, also den Sozialleistungen, ist das viel komplizierter. Darüber müssen wir noch viel verhandeln", gab der ungarische Premierminister Viktor Orban zu verstehen.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, der Sozialdemokrat Martin Schulz, empfahl dem britischen Konservativen, doch erst einmal klar zu unterscheiden, was an dem Problem auf europäisches Recht zurückgehe und was daran durch nationales britisches Recht verursacht wird. Eine Wartezeit von vier Jahren bei Sozialleistungen, wie sie Cameron vorschwebe, sei nicht machbar, sagte Schulz. Die Art der Sozialleistungen schreibt die EU den Mitgliedsstaaten nicht vor, nur dass zwischen Einheimischen und übrigen EU-Bürger keine Unterschiede gemacht werden dürfen. "David Cameron muss der Europäischen Union entgegen kommen. Es ist ja so, dass nicht wir dieses Referendum erfunden haben, sondern er will darüber diskutieren", meinte Schulz.
In Großbritannien kritisieren Camerons Gegner sein Auftreten auf europäischer Bühne scharf. Der Premierminister sei dabei, einzuknicken. Die Reformvorschläge seien "trivial" und eine "Scharade", sagte Nigel Farage, der Vorsitzende der UKIP, in einem BBC-Interview. Wiedervorlage im Februar 2016.
Nur kleine Fortschritte in der Flüchtlingspolitik
Für die meisten EU-Staaten ist die andauernde Flüchtlingskrise im Moment das wichtigere Thema. Da ermahnten sich die Gipfelteilnehmer in ihrer Abschlusserklärung selbst, sich doch an die Beschlüsse zu halten, die schon bei Treffen im Oktober gefasst wurden. Die Umsetzung gehe zu langsam voran, kritisierte der österreichische Bundeskanzler Werner Feymann. Einen verbindlichen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge auf alle EU-Staaten liegt immer noch in weiter Ferne.
Der Gipfel sprach sich für eine Stärkung des Grenz- und Küstenschutzes auch durch europäische Behörden aus, aber eigene Souveränitätsrechte aufzugeben, gefällt vielen Staaten nicht. Darüber wird wahrscheinlich bis Sommer 2016 verhandelt werden müssen, meinten EU-Diplomaten.
Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu, der sich vor dem eigentlichen EU-Gipfel mit einem kleinen Kreis von EU-Staaten getroffen hatte, kündigte in Brüssel an, sein Land werde Anfang Januar eine Visumpflicht für Syrer einführen. Damit sollten "offensichtliche" Flüchtlinge nicht abgehalten werden, in die Türkei zu kommen, sondern der Missbrauch von syrischen Pässen durch Bürger anderer Staaten solle abgestellt werden, hieß es von türkischer Seite.
"Wir müssen schneller arbeiten"
Die EU hatte mit der Türkei ein Aktionsprogramm vereinbart, um die Weiterreise syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in die EU zu drosseln. Im Gegenzug wollen einige Staaten Flüchtlinge direkt aus den Lagern in der Türkei aufnehmen. Zahlen wurden dazu nicht genannt. Diese so genannten Kontingente sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel als einen zentralen Baustein bei der Lösung der Flüchtlingsfrage an.
Die drei Milliarden Euro, die der Türkei für die Unterbringung von Flüchtlingen von der EU versprochen wurden, sind immer noch nicht finanziert. Die Staats- und Regierungschefs forderten nur ihre Botschafter in Brüssel auf, das jetzt "unverzüglich" zu bewerkstelligen.
Merkels Fazit der Flüchtlingsdebatte im Europäischen Rat lautete schlicht: "Wir müssen schneller arbeiten." Die Kanzlerin sprach von einer Lernkurve, die stark ansteigen müsse. "Das haben wir ja nicht geübt", sagte sie mit Blick auf die hohen Zuwandererzahlen in diesem Jahr.