Gerechtigkeit für Thomas Sankara
10. Oktober 2021Justin Sogbedji blickt die fünf Meter hohe Statue von Thomas Sankara ehrfürchtig an. Sie ist im vergangenen Jahr im Zentrum von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou zwischen Campus und Regierungsviertel aufgestellt worden und zieht seitdem jeden Monat mehrere tausend Besucher und Besucherinnen an. Auch auf Sogbedji übt sie eine Faszination aus; er lässt sich immer wieder vor ihr fotografieren. "Thomas Sankara ist ein Kämpfer. Seit meiner Kindheit gefällt mir, was er getan hat", sagt Sogbedji, der vor drei Jahren aus dem Nachbarland Benin nach Burkina Faso gezogen ist. Jetzt hat er Zeit gefunden, sich die Statue und die Erinnerungsstätte in Ruhe anzusehen. "Er hat so für Burkina Faso gekämpft. Das ist toll."
Sankara, der nach einem Staatsstreich am 4. August 1983 an die Macht gekommen war, ist seit Tagen das Gesprächsthema in Ouagadougou. An diesem Montag (11. Oktober) hat schließlich der Prozess begonnen, der endgültig aufklären soll, wie er und zwölf weitere Militärs am 15. Oktober 1987 ums Leben gekommen sind. Auch Jean-Hubert Bazié, im Namen des Thomas-Sankara-Denkmals verantwortlich für den Bereich Kommunikation und Journalist im Ruhestand, fiebert dem Prozessausgang entgegen: "Wir hoffen, dass die Wahrheit ans Licht kommt."
Am Ort der Hinrichtung
Die Wahrheit ist eng verbunden mit dem Standort der Statue, die künftig mit einem Turm den Mittelpunkt einer knapp 10.000 Quadratmeter großen Parkanlage bilden soll. Bazié führt über einen Weg zwei Häusern, die weiter hinten auf dem Gelände stehen. Eines diente als Sitz des Nationalen Revolutionsrates (CNR), der mit Sankara an die Macht gekommen war.
"Schauen Sie sich das linke an. In diesem ist Thomas Sankara damals gemeinsam mit seinen zwölf Kameraden hingerichtet worden", sagt Bazié. Ein großes Porträt sowie ein Kranz aus Plastikblumen erinnern daran. An jenem Donnerstag hatte sich Sankara - damals 38 Jahre alt - hier mit Mitgliedern seines Kabinetts getroffen, um unter anderem über die Gründung einer politischen Partei zu diskutieren. Plötzlich waren draußen Schüsse zu hören. Beim Versuch, das Gebäude zu verlassen, wurden sie erschossen. Nur einer, Alouna Traoré, überlebte.
Hauptangeklagter ist Blaise Compaoré, Sankaras einstiger Weggefährte und Nachfolger im Präsidentenamt. Das hatte der heute 70-Jährige bis zu seinem Rücktritt am 31. Oktober 2014 inne.
Anschließend ging er ins Exil in die Elfenbeinküste, wo er 2016 die ivorische Staatsangehörigkeit annahm. Persönlich auf der Anklagebank erwartet ihn niemand. Laut seinen Anwälten ist er nicht zur Vernehmung vorgeladen worden. Auch genieße er als einstiger Staatschef Immunität. Nach Einschätzung von Bazié verweigere er sich wie schon seit Jahrzehnten der Aufklärung. "Schon Sankaras Vater hat immer gesagt: Er warte auf einen Besuch von Blaise Compaoré, um zu erfahren, was damals passiert ist. Er lebt längst nicht mehr. Doch Compaoré hat diesen Besuch nie gemacht."
Der Verdienst der Jugend
Auch im Stadtteil Wayalghin, in dem die Bürgerrechtsbewegung Balai Citoyen (Bürgerbesen) ihren Sitz hat, wird der Prozess mit Spannung erwartet. "Optimal wäre natürlich, wenn er hier wäre und der Justiz seines Landes Rede und Antwort stehen würde", sagt Eric Ismael Kinda, Sprecher der Bewegung, über Compaorés Abwesenheit. "Er ist geflohen und hat kein Vertrauen in jenes Rechtssystem, für das er zu einem großen Teil verantwortlich ist."
Die Zivilgesellschaft hat großen Anteil daran, dass der Prozess überhaupt möglich ist, findet der in Kanada lebende Politikwissenschaftler Aziz Salmone Fall, der die internationale Kampagne "Gerechtigkeit für Thomas Sankara" koordiniert. "Die junge Generation, die Sankara gar nicht gekannt hat, hat das Regime Compaoré umgeworfen." Ihre wochenlangen Proteste zwangen Compaoré schließlich zum Rücktritt. Unter der Übergangsregierung von Michel Kafando wurde Sankaras Leichnam exhumiert. Die Aufarbeitung begann auch von Regierungsseite. Unter anderem bescheinigte ein Militärarzt, dass die Leiche "von Kugeln durchsiebt" war. Zuvor hatte es geheißen, er sei eines "natürlichen Todes" gestorben.
Die Rolle Frankreichs
Fall will selbst nicht am Prozess teilnehmen und so gegen die Abwesenheit Compaorés protestieren. Aufgeklärt werden muss aus seiner Sicht aber auch die Rolle Frankreichs, der einstigen Kolonialmacht. Erst im Jahr 2017 hatte Präsident Emmanuel Macron in Ouagadougou die Freigabe aller französischen Dokumente zur Ermordung von Sankara angekündigt. "Ich denke nicht, dass es in lokales Komplott war. Es war international. Damit ist die letzte Revolution auf dem afrikanischen Kontinent beendet worden", so Fall. Sankara, der sich für lokale Produktion einsetzte und von seinen Anhängern und Anhängerinnen bis heute für seine Bescheidenheit verehrt wird, war vielen ein Dorn im Auge.
In Ouagadougou ist es vor allem die junge Generation, für die Sankara bis heute ein Held ist. "Er hat gegen das gekämpft, was die Gesellschaft aushöhlt. Dazu gehören Korruption, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, generell Armut. Wir wissen, dass gerade die Jugend besonders von Armut betroffen ist", sagt Kinda.
Doch es gibt wohl noch einen weiteren Grund. Kein anderer Politiker eignet sich seitdem zum Helden. Am Thomas-Sankara-Denkmal überlegt Justin Sogbedji lange, bis er antwortet: "Nein, ich habe bisher niemanden gesehen, der wie er ist."