Bundestagswahl: Zahl der Unentschlossenen so hoch wie nie
22. September 2021"Diesmal ist es besonders schwer", sagt Hardy Wendt. Bei früheren Wahlen habe er immer gewusst, für wen er stimmen sollte, erzählt der 69-Jährige der DW. "Aber jetzt ist keiner dabei, von dem ich überzeugt bin."
Welcher Partei soll er seine Zweitstimme geben, welches Lager soll im kommenden Parlament am stärksten vertreten sein? Immerhin wählen die Volksvertreter im Bundestag ja den nächsten Kanzler oder die nächste Kanzlerin. Wen kann Wendt sich noch am ehesten als Nachfolger Angela Merkels vorstellen? Annalena Baerbock von den Grünen, Olaf Scholz von der sozialdemokratischen SPD oder Armin Laschet von der konservativen CDU? "Die Kanzlerkandidaten passen mir alle drei nicht", sagt Wendt, der gerade auf dem Weg zum Einkaufen ist und in Bonn lebt, ganz im Westen Deutschlands.
Kein Amtsinhaber im Rennen
Ähnlich wie Wendt geht es vielen Deutschen. Vier von zehn Befragten, die sich an der Wahl beteiligen wollen, wissen noch nicht, welcher Partei sie ihre Stimme geben. Das ergab vergangene Woche eine Umfrage des Allensbach-Instituts im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. So groß war die Zahl der Unentschlossenen noch nie.
Politikwissenschaftler Thomas Gschwend von der Universität Mannheim überrascht das nicht. Er führt die hohe Zahl der Unentschlossenen auf die "neue Situation" nach dem Ausscheiden von Angela Merkel aus dem Amt zurück. "Wir haben keinen Amtsinhaber, der antritt. Wir haben drei statt zwei Parteien, die sich um die Kanzlerschaft bewerben. Und es ist nicht ganz klar - oder besser gesagt, es ist alles andere als klar - welche Koalitionsregierung wir bekommen werden", so Gschwend im Gespräch mit der DW. "Da kann ich verstehen, dass es schwieriger ist, sich zu entscheiden." Er selbst habe auch erst am vergangenen Wochenende seine Briefwahlunterlagen ausgefüllt.
Lagerwahlkampf war gestern
Hauptproblem sei, dass keine der Parteien kreative oder neue Lösungen für alte Probleme anbiete, sagt die deutsch-britische Historikerin Katja Hoyer. Während Angela Merkels Amtszeit seien viele Schlüsselthemen nicht angegangen worden, "etwa die Lebensqualität, die Bezahlbarkeit der sozialen Versorgung oder die soziale Mobilität", so Hoyer. "Zudem sind die Kandidaten selbst nicht besonders inspirierend, was dazu führt, dass viele Wählerinnen und Wähler unentschlossen sind, weil sie keinen von ihnen wollen."
Seit Gründung der Bundesrepublik 1949 standen sich stets ein konservativer Kanzlerkandidat der Unionsparteien CDU/CSU und ein sozialdemokratischer Herausforderer von der SPD gegenüber. Nur 2002 gab es schon einmal drei Kanzlerkandidaten, als Guido Westerwelle (FDP) sich - allerdings erfolglos - ums Kanzleramt bemühte. In einem Lagerwahlkampf zwischen bürgerlichen und progressiven Kräften stand die liberale FDP seit den 1980er Jahren meist der Union zur Seite, die Umweltpartei der Grünen stand an der Seite der SPD. Und wer der sozialistischen Linkspartei oder später der rechtspopulistischen AfD seine Stimme gab, wusste, dass diese wohl in der parlamentarischen Opposition landen würden.
"Eine Achterbahnfahrt der Umfragen"
Doch im Jahr 2021 gehen die bisherigen Rechnungen nicht mehr auf. Drei Parteien kämpfen um den Einzug ins Kanzleramt und es ist gut möglich, dass keine von ihnen mit nur einem Koalitionspartner eine Regierungsmehrheit zustande bringt. "Jede der drei Parteien lag in diesem Wahlkampf irgendwann einmal an erster Stelle, und das ist ungewöhnlich", sagt der Politologe Thomas Gschwend.
Die Umfragen spiegelten dabei auch die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Wähler mit dem Wahlkampf und den Kandidaten. "Die Menschen sind mit der Substanz des Wahlkampfes nicht zufrieden. Wenn man sich die Entwicklung der Umfragen seit dem Frühjahr anschaut, ist das wie eine Achterbahnfahrt."
Wer steht für Kontinuität?
Es sei ein "echter Fehler" der CDU gewesen, davon auszugehen, dass sich Armin Laschet automatisch als Kandidat entpuppen würde, der für Kontinuität zu Angela Merkel stehe. Während sich Laschets Politik weitgehend mit der der viermaligen Wahlsiegerin Merkel deckt, sehen viele Beobachter seine Persönlichkeit eher im Kontrast zum unaufgeregten Regierungsstil Merkels.
Nicht jeder bisherige Merkel-Unterstützer sei automatisch ein Anhänger der CDU, sagt Gschwend. Angela Merkel habe mehr Stimmen mobilisiert, vor allem von weiblichen Wählern. "Ich nenne sie die Merkel-Wähler oder die Merkel-Christdemokraten, ein bisschen wie die Reagan-Demokraten in den USA", so Gschwend.
Entscheidung in letzter Minute
Als Kandidat der Kontinuität inszeniert sich vor allem Olaf Scholz von der SPD. Seine Partei liegt derzeit in den Umfragen vorn. "Er mag nicht aufregend sein, aber zumindest wird er sich nicht radikal von einem Status quo unterscheiden, der stabil, wenn auch nicht ideal erscheint", meint Katja Hoyer. "Aber es ist unwahrscheinlich, dass er in den Umfragen über seinen derzeitigen Stand hinauskommt, weil seine Partei immer noch so unbeliebt ist."
Für welche Partei es am Ende reichen wird? "Ich würde eigentlich auf nichts wetten", sagt Gschwend. Auch nach der Wahl könnte es lange dauern, bis feststeht, wer mit wem eine Regierungskoalition bilden will. Zumindest die Wähler und Wählerinnen werden bis Sonntagabend entscheiden müssen, wem sie ihre Stimme geben.
Auch Hardy Wendt in Bonn will von diesem Recht unbedingt Gebrauch machen. "Ja, ich werde hingehen", sagt der ehemalige Taxifahrer und zeigt die Straße hinunter zu einer Grundschule. Dort spielen noch Kinder auf dem Schulhof, doch am 26. September wird hier sein Wahllokal eingerichtet. Vielleicht wird Wendt erst dann entscheiden, wo er sein Kreuz macht.
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.