Bundestag billigt längere Atomlaufzeiten
28. Oktober 2010Die Abkehr vom Atomausstieg ist Fakt. Der Bundestag billigte am Donnerstag (28.10.2010) in Berlin mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition Laufzeitverlängerungen für die 17 deutschen Reaktoren um durchschnittlich zwölf Jahre. Dafür stimmten 308 Abgeordnete, dagegen 289; es gab zwei Enthaltungen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Akw-Laufzeitverlängerung im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist, weil es sich nur um eine moderate Änderung handele. Das sehen SPD, Linke, Grüne und mehrere Bundesländer anders, sie wollen dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Die Opposition hat die Mehrheit in dem Ländergremium und hätte den Ausstieg kippen können.
Hitzige Debatten
In der Schlussdebatte über das Energiekonzept hatte sich die Opposition mit der schwarz-gelben Koalition noch einmal einen erbitterten Schlagabtausch geliefert. Die Opposition warf der Regierung von Union und FDP vor, sie spalte Deutschland mit ihrer Energiepolitik. Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei attackierten die Rücknahme des Atomausstiegs als Angriff auf die Ökostrom-Branche und als Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit von Millionen Menschen. Union und FDP verteidigten dagegen ihr Energiekonzept als zukunftsweisend und warfen vor allem den Grünen parteipolitische Stimmungsmache vor.
Außerhalb des Reichstages protestierten mehrere tausend Atomkraftgegner. Greenpeace-Aktivisten besetzten das Dach der CDU-Parteizentrale. Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI) kündigte massenhaften Protest gegen den Castor-Transport ins Zwischenlager Gorleben Anfang November an.
Röttgen: Bei Opposition nur Kampfgeschrei
Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) verteidigte zum Auftakt der abschließenden Lesung im Parlament das Konzept als zukunftsweisend und solide finanziert. Die Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke (Akw) würden verschärft, was SPD und Grüne beim Ausstiegsbeschluss aus dem Jahr 2000 verhindert hätten.
Eigentlich, so Röttgen, hätten SPD und Grüne überhaupt kein Konzept und keine Argumente außer des Missbrauchs der Debatte. "Gar nichts bieten Sie an - in Wahrheit sind Sie energiepolitische Blindgänger. Sie stellen die Parteiinteressen vor die Interessen des Landes", polemisierte Röttgen. Die Menschen wollten aber kein parteipolitisches "Geschrei".
Grüne: "Keine Revolution - ein Putsch"
Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin beschuldigte Röttgen, er komme seiner Verantwortung für die Reaktorsicherheit nicht nach. Die Bundesregierung wolle eine "laxe Form der Atomaufsicht" ins Bundesgesetz übernehmen. Trittin nannte die Koalitionsgesetze ein Hindernis für Investitionen sowohl von Stadtwerken als auch der Ökostrombranche, da Atomstrom bevorzugt werde. "Das ist keine Revolution, das ist ein Putsch", kommentierte er mit Blick auf Kanzlerin Angela Merkel, die ihr Konzept eine Revolution genannt hatte. Die Verfassung werde gebrochen und der Bundesrat umgangen.
Die Vizefraktionschefin der Grünen, die ehemalige NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn, kündigte an, das neue Atomgesetz werde einen Regierungswechsel nicht überstehen. Spätestens dann werde die Laufzeitverlängerung wieder kassiert.
Gabriel: Dann eben vor das Verfassungsgericht
Dem schloss sich SPD-Chef Sigmar Gabriel an. Zudem drohte er, Verfassungsklage einzureichen, da das Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrats durchgesetzt werden soll. "Sie spalten die Gesellschaft, wo sie sich schon einig war", rief er den Abgeordneten von Union und FDP zu. Der Beschluss zum Atomausstieg habe einen Konsens geschaffen, der jetzt zugunsten der Atombranche geopfert werde. "Was Sie hier abliefern, ist nichts anderes als eine Auftragsarbeit der Atomwirtschaft." Linken-Fraktionschef Gregor Gysi kritisierte: "Vier Konzerne gewinnen - und Millionen Menschen verlieren. Sie stiften absichtsvoll Unfrieden."
Das Energiekonzept der schwarz-gelben Regierung sieht neben der Verlängerung der Akw-Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre den verstärkten Ausbau des Ökostroms vor, bis er einen Anteil von 80 Prozent an der gesamten erzeugten Energiemenge erreicht. Dies soll 2050 der Fall sein. Der Ausbau soll mit Abgaben der Akw-Betreiber für einen Öko-Fonds mitfinanziert werden. Die Konzerne Vattenfall, RWE, E.ON und EnBW müssen außerdem bis 2016 jährlich eine Kernbrennstoffsteuer von 2,3 Milliarden Euro zahlen.
Autoren: Siegfried Scheithauer/Pia Gram (rtr, dapd, dpa)
Redaktion: Ursula Kissel