Neue Rabbiner im Land der Shoa - und neue Sorgen
21. November 2022Fünf neue Rabbiner. Das Judentum in Deutschland feiert in Hannover die Ordination von fünf Geistlichen, die in den vergangenen Jahren am orthodoxen "Hildesheimer'schen"-Seminar im Berlin ausgebildet wurden. Nie nach 1945 wurden in Deutschland mehr Rabbiner bei einer einzigen Feier beauftragt. Grund dafür ist auch die Corona-Pandemie, die seit 2020 solche Feiern unmöglich machte.
Angst vor einem Anschlag
Aber der Ort der Feier, deren feierliche offizielle Teile in Hebräisch gesprochen und gesungen werden, ist besonders. In Hannover steht die erste nach der Shoa neugebaute Synagoge in Deutschland. Vor kurzem, Anfang Oktober, wurde dieses Gotteshaus wegen eines mutmaßlichen Anschlags bundesweit bekannt. Da ging, just während der Liturgie zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, klirrend ein Fenster in der Synagoge zu Bruch. Angst und Panik. Die Gemeinde rief die Polizei. Die Behörden ermittelten lange. Erst vor wenigen Tagen erklärten Staatsanwaltschaft und Polizei, es sei wohl eine Taube gegen das Glas geflogen.
Das habe, erläutert der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hannover, Michael Fürst, in seinen Begrüßungsworten, das Bundeskriminalamt "durch eine DNA-Probe analysiert". "Was für eine Taube", sagt Fürst, "die an Jom Kippur ins Fenster fliegt". Es klingt auch nach Zweifel.
Daraus spricht wohl die anhaltende Angst vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland seit Jom Kippur 2019. Damals fielen dem Angriff eines rechtsextremen Täters auf die Synagoge in Halle in den nahen Straßen zwei Menschen zum Opfer. Die Angst vor Anschlägen wird geradezu im Wochenrhythmus durch Übergriffe neu geschürt.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der als Festredner an der Feier teilnahm (Titelfoto), geht darauf ausführlich ein. Heute würden in Deutschland "Jüdinnen und Juden diffamiert, verhöhnt, tätlich angegriffen", sagt er. Daran habe Halle nichts geändert, im Gegenteil. "Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt in Deutschland." Erst Mitte November habe ein Unbekannter Schüsse auf die Tür des Rabbinerhauses neben der Alten Synagoge in Essen abgegeben. Auch in Berlin sei am Wochenende eine Synagoge beschädigt worden. Der Bundespräsident zeigt sich "erschüttert" und ruft zu Wachsamkeit auf. "Wir dürfen nicht wegschauen!"
Es ist die erste Rabbiner-Ordination in Deutschland, an der Steinmeier teilnimmt, seine zweite insgesamt. Im September 2014 feierte er, damals als deutscher Außenminister, in Breslau die Ordination von vier Rabbinern mit, die das liberale Geiger-Kolleg in Berlin ausgebildet hatte. Nun in Hannover gratuliert er neuen orthodoxen Rabbinern.
Orthodox, nicht liberal
Bemerkenswert ist, wie sehr Michael Fürst in seinen einleitenden Worten auf Distanz zur bestehenden Form des liberalen Strömung des Judentums geht. Gemeinhin gilt die Region südöstlich von Hannover als erstes Gebiet, in dem sich im 19. Jahrhundert eine progressive Ausrichtung des Judentums entwickelte. Im Örtchen Seesen stand bis 1938 die erste reformierte Synagoge weltweit. Und nun sagt Fürst überraschend kritisch, dieses "Kerngebiet" jüdischen Lebens habe "nichts mit dem Begriff liberal zu tun", obwohl dies heute häufig behauptet werde. Damals wie heute sei es um "modernes Judentum" gegangen.
Die fünf, die an diesem Montag als Rabbiner ordiniert werden, stehen für modernes orthodoxes Judentum, vor allem für europäisches Judentum. Einer von ihnen, Nehorai Daus, ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Die anderen vier, Mendel Itkin, Meir Yisroel Myropolskyy, Shimshon Pushenco und Bryan Baruch Weisz, sind in der Ukraine, in Moldawien oder England geboren. Die meisten von ihnen haben Familie.
Sie alle lernten im "Hildesheimer‘schen Rabbinerseminar" in der Berliner Mitte. Die orthodoxe Lernstätte in der Brunnenstraße, 1973 von Rabbiner Esriel Hildesheimer gegründet, war 1938 von den Nationalsozialisten geschlossen und geplündert worden. Erst 2009 wurde sie wiedereröffnet. Mittlerweile ist sie in der jüdischen Orthodoxie international angesehen.
Das Herz des Judentums
In ihren als Video eingespielten Statements wies jeder der Absolventen auf die Bedeutung dieses Lehrhauses hin. "Sie ist für mich das Herz des Judentums in Deutschlands", sagte beispielsweise Myropolskyy. So zeigt sich letztlich die Pluralität des wiedererstandenen Judentums im Land der Shoa. Seit 2006 ordiniert das Reformjudentum liberale Rabbinerinnen und Rabbiner, die in in Deutschland ausgebildet wurden. Seit 2009 werden orthodoxe Rabbiner ordiniert.
Eigens für die Feier ist der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, nach Deutschland gekommen. Nach der Shoa, betont er, habe niemand gedacht, dass es noch einmal eine Chance auf jüdisches Leben in Deutschland gebe. Lauder, der mit Finanzmitteln einer eigenen Stiftung den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Mittel- und Osteuropa massiv unterstützt, würdigt dann das Engagement der Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949-1963) und Willy Brandt (1969-1974). Aber Lauder kommt auch auf den Anschlag von Halle zu sprechen. Bald nach der Tat stand er vor der hölzernen Tür der Synagoge, die den Angreifer stoppte, und hielt inne. "Die Regierung trägt nun Sorge für das jüdische Leben in Deutschland", mahnt er.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, stimmt die neuen Rabbiner auf ihre Aufgaben ein. Er schildert die materiellen Sorgen vieler älterer Mitglieder jüdischer Gemeinden, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aus Osteuropa nach Deutschland gekommen seien und denen nun die Armut drohe, weil sich die Politik nicht über Härtefallregelungen verständige und sie als "Spielball" benutze. Schuster greift auch die Verschwörungserzählungen von Rechtsextremen und Rechtspopulisten auf. Juden und Jüdinnen würden für sie "wieder zu Sündenböcken".
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sei "aufgewühlt" und "verunsichert". Dazu habe auch das Ausmaß an Antisemitismus bei der Kunstausstellung documenta beigetragen. "Die Gemeinden sind das Herz der jüdischen Gemeinschaft", appelliert Schuster an die neuen Geistlichen. "Bitte sorgen Sie sich gut um sie."