Bulgarien: Nach der Wahl ist vor der Wahl
3. Mai 2021Die an kontroversen Figuren nicht eben arme politische Landschaft Südosteuropas ist seit der Wahl in Bulgarien Anfang April um ein illustres Mitglied reicher: Den Musiker und TV-Moderatoren Stanislaw "Slawi" Trifonow, der mit seiner Partei "Es gibt so ein Volk" mit 17 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der seit zwölf Jahren regierenden Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens) des langjährigen Premierministers Bojko Borissow wurde.
Aus dem Stand überholte Trifonow, der seinen Wahlkampf vor allen über Facebook machte, sowohl die ex-kommunistischen Sozialisten (BSP) als auch die Partei der bulgarischen Türken (DPS). Sein Programm: Mehrheitswahlrecht, Halbierung der Abgeordnetenzahl, Direktwahl des Generalstaatsanwaltes und der Polizeichefs.
Nachdem der amtierende Premier Borissow erwartungsgemäß mit einer Regierungsbildung gescheitert war, gab Trifonows Partei am vergangenen Mittwoch (28.04.2021) den entsprechenden Auftrag an Präsident Rumen Radew zurück - nach nur fünf Minuten.
"Das Wahlergebnis kommt einem kleinen Erdbeben gleich", schätzt Borjana Dimitrowa, Direktorin des Meinungs- und Umfrageinstituts Alpha Research ein. Trifonows Ergebnis sowie der Absturz der Sozialisten seien dabei die größten Überraschungen gewesen. Verantwortlich dafür, so Dimitrowa, sei auch die Führungskrise der BSP, die in den letzten Jahren betont populistisch, anti-liberal und pro-russisch auftrat.
Drei politische Newcomer
Sechs Parteien wählten die Bulgaren ins Parlament, darunter mit "Es gibt so ein Volk", "Demokratisches Bulgarien" und "Steh auf! Mafia raus!" drei Newcomer. Sie profitierten von den Massenprotesten des Sommers 2020, die Borissows Regierung Korruption und Mafia-Gebaren vorwarfen.
"Das Wahlergebnis mit mehreren neuen Parteien ist eine kleine Sensation und eine positive Folge des Protestsommers", so Aret Demirci von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Sofia. "Die Wählerinnen und Wähler haben sich klar gegen ein Weiter-so ausgesprochen, aber keine eindeutigen Mehrheiten ermöglicht. Hinzu kommt die 'Ausschließeritis'" - jede der neuen Parteien hatte Koalitionen sowohl mit Borissows GERB als auch der BSP oder der DPS kategorisch ausgeschlossen.
Krise ja - aber keine Krise der Demokratie
"Was wir jetzt hier haben, ist eine politische Krise, aber keine Krise der Demokratie", ist sich Vessela Tschernewa sicher. Die Direktorin des European Council of Foreign Relation in Sofia meint, die Zersplitterung der Parteienlandschaft und die Animositäten zwischen den politischen Lagern erschwerten zwar die Regierungsbildung - aber "die Parteien- und Meinungsvielfalt im neuen Parlament spricht für eine lebendige Demokratie in Bulgarien."
Tatsächlich kam es in Bulgarien weder vor noch während noch nach der Wahl zu Boykotts oder Gewalt. Alle Parteien akzeptierten das Wahlergebnis. Für Tschernewa unterscheidet sich das neue Parlament in der Hauptstadt Sofia daher kaum von anderen europäischen Volksvertretungen.
Erdrutschsieg, Rückkehr zum Status quo oder Vertrauenskrise?
Schon nach dem orthodoxen Osterfest (2./3.05.2021) könnte Präsident Radew Neuwahlen ausrufen und eine Übergangsregierung einsetzen. Die, so prognostiziert Tschernewa, hätte dann vor allem zwei Aufgaben: Organisation des neuen Urnengangs und vor allem die Einrichtung von mehr Wahllokalen im Ausland für die bulgarische Diaspora. Hinzu kommt eine von allen Parteien geforderte Untersuchung der Korruptionsvorwürfe gegen Borissow und seiner Regierung. Letzteres dürfte Radew und die BSP, die nicht erst seit dem Streit über die berühmt-berüchtigten Fotos aus dem Schlafzimmer des amtierenden Regierungschefs eine Erzfeindschaft mit dem Noch-Premier pflegen, besonders freuen.
Indes scheinen alle Parteien im Falle einer Neuwahl fest mit besseren Ergebnissen zu rechnen. Borissow und Trifonow blieben trotz Direktmandaten dem Parlament bisher gänzlich fern und versenden stattdessen Wahlkampfbotschaften via Facebook. Bei den Sozialisten kam es zu einer Reihe von Rücktritten, während die DPS versucht, ihre Stammwählerschaft in der Provinz und im Ausland noch straffer zu aktivieren. "Demokratisches Bulgarien" bringt derweil unermüdlich Gesetzesvorlagen zur Reform des Justiz- und Wahlsystems ein.
Von einer Regierung der "neuen Parteien" mit absoluter Mehrheit oder als Minderheitsregierung über ein neuerliches Patt, das zu einer Verfassungskrise führen könnte, bis hin zu einer Rückkehr Borissows - Umfrageforscherin Borjana Dimitrowa hält jedes Szenario für möglich. Und auch Aret Demirci will den "politischen Langestreckenläufer" Borissow, der seinen Wählern vor allem Stabilität verspricht, noch lange nicht abschreiben.
Dringende Aufgaben
An Aufgaben für eine neue Regierung Bulgariens mangelt es nicht: Corona-Pandemie und EU-Hilfsfonds, der Streit mit Nordmazedonien, Justiz- und Wahlreform und grassierende Korruption. Während die politischen Kräfte sich gegenseitig belauern und blockieren, attestieren internationale Beobachter bedenkliche Entwicklungen.
Reporter ohne Grenzen listet Bulgarien in puncto Medienfreiheit nur noch auf Platz 112. Der US-Think Tank "Freedom House" sieht in einer Untersuchung ein "hybrides Regime" in Bulgarien und eine Gefahr bei der Konsolidierung der Demokratie. Justiz, Korruption, Medienfreiheit und Diskriminierung von Minderheiten seien die größten Probleme.
Doch Sachfragen - nicht einmal Corona - werden in Bulgarien derzeit kaum diskutiert. Stattdessen dreht sich alles um Bojko Borissow, Slawi Trifonow und die Frage, wie der EU-Mitgliedsstaat nach zwölf Jahren GERB-Regierung aussehen könnte. Wenn es denn dazu kommt.