1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie die Nazis ein Kochbuch stahlen

2. November 2020

Das Kochbuch der Jüdin Alice Urbach war in den 1930ern ein Bestseller. Nach ihrer Flucht vor den Nazis verkauften diese ihr Buch unter arischem Namen weiter.

https://p.dw.com/p/3jmFJ
Vier Frauen arbeiten in der Küche - Foto aus "Das Buch Alice" von Karin Urbach
Das Kochbuch von Alice Urbach: Rezepte zum NachmachenBild: Propyläen Verlag

Deftigen Kaiserschmarrn, "ausgezogenen Apfelstrudel" und Faschingskrapfen - Rezepte für diese und weitere Speisen finden sich auf über 500 Seiten in Alice Urbachs Kochbuch "So kocht man in Wien". In den 1930er Jahren hatte fast jeder Haushalt ein Exemplar davon im Regal stehen. Das Buch wurde zu einem Bestseller und Alice Urbach eine erfolgreiche Buchautorin. Doch der Ruhm währte nicht lange.

Wer war Alice Urbach?

Alice Urbach kommt 1886 in Wien als Kind jüdischer Eltern auf die Welt. Sie hat blaue Augen und helles Haar. Die Eltern haben große Pläne mit ihren Kindern, sie sehen sie als Ärzte oder Anwälte in der Oberschicht Wiens. Doch die kleine Alice ist nicht das gewünschte Wunderkind, sie interessiert sich schon im frühen Alter fürs Kochen - und versucht ihren strengen Vater mit Petits Fours zu begeistern und seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, vergebens. 

Mutter Alice Urbach mit Sohn Otto auf einer Holzplanke auf einer Fotografie von 1948 oder 1949 - Schwarz-Weiß-Fotografie
Alice Urbach mit ihrem Sohn Otto 1948/1949Bild: Propyläen Verlag

Immerhin heiratet sie einen Arzt, allerdings interessiert sich der mehr für Casinos als für sie. Bereits acht Jahre nach der Hochzeit stirbt er. Alice Urbach bleibt alleine mit zwei kleinen Kindern. Sie ist völlig mittellos. Also, was tun? Sie krempelt die Ärmel hoch, gründet eine Kochschule, hält Vorträge über die moderne Wiener Küche mit Titeln wie "Die Schnellküche der berufstätigen Frau", organisiert Kochkunstausstellungen und erfindet den ersten Lieferservice für warme Speisen in Wien. Die Witwe sichert so in der Zwischenkriegszeit den Unterhalt für sich und die beiden Söhne. Gleichzeitig kann sie dabei ihrer Leidenschaft, dem Kochen, nachgehen.

"Das Buch Alice" - Karina Urbach erzählt darin die Geschichte ihrer Großmutter

"Alice war eine kleine, süße, runde Frau mit einer ‘Mehlspeisefigur'" beschreibt ihre Enkelin, die Historikerin Dr. Karina Urbach, sie im DW-Interview. Kürzlich veröffentlichte sie im Propyläen Verlag "Das Buch Alice: Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten". Ihre Oma sei amüsant und witzig, liebevoll und großzügig und immer perfekt angezogen gewesen, so die Enkelin. Anders als ihre Großmutter beherrsche sie das Kochen aber nicht: "Daher interessierte ich mich auch nie, dass bei uns zu Hause zwei Kochbücher mit dem Titel 'So kocht man in Wien!' im Regal standen", sagt Karina Urbach.

Zwei Frauen, eine davon Alice Urbach, auf einer Treppe - Schwarz-Weiß-Fotografie
Alice Urbach (links) und Paula Sieber betreuten Waisenkinder in EnglandBild: Propyläen Verlag

Der Text und auch die integrierten Farbfotos waren in beiden Büchern identisch, nur die Autorennamen auf den Umschlägen hätten sich unterschieden: "Auf der Ausgabe von 1938 wurde 'Alice Urbach' als Autorin angegeben, auf der von 1939 ein Mann namens 'Rudolf Rösch'", verrät die Enkelin direkt am Anfang des Buches. Was sie im Zuge ihrer Recherche entdeckt hat, ist erstaunlich.

Alice Urbach: Mit dem Kochbuch auf der Flucht

Am 12. März 1938 marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 sah sich Alice gezwungen zu fliehen. Mit dabei: ihr Kochbuch. Sie setzte sich zunächst nach England ab, wo sie als Köchin arbeitete und eine Unterkunft für jüdische Waisenkinder, die mit den Kindertransporten nach Großbritannien ausreisen konnten, unterhielt.

Mehrere Mädchen in Kleidern, zwei halten einen Blumenstrauß, eine einen Ball in der Hand; fast alle lächeln - Schwarz-Weiß-Fotografie
Die jüdischen Waisenkinder in England, um die sich Alice liebevoll kümmerteBild: Propyläen Verlag

Nach dem Krieg folgte die damals 60-jährige Alice dann ihren Söhnen in die USA. Sich zur Ruhe zu setzen, entsprach dabei nicht ihrem Temperament. Auch in Übersee wurde sie eine Berühmtheit, die noch mit 90 Jahren in Fernsehshows kochte. Sie galt als älteste Köchin Amerikas, die mit ihren österreichischen Rezepten und ihrem charmanten Akzent das interessierte Publikum verwöhnte.

Diebstahl von Urheberrecht durch die Nationalsozialisten

Doch ein Wunsch blieb ihr bis zum Tode im Jahr 1983 verwehrt - die Rechte an ihrem Kochbuch. Wie sie zufällig bei einem Besuch einer Buchhandlung, in der sie ihr Buch liegen sah, erfahren hatte, war es zwischenzeitlich unter einem anderen Namen veröffentlicht worden. Die Nazis hatten es "arisiert" und 1938 als ein Werk von "Rudolf Rösch" veröffentlicht.

Karina Urbach, Autorin von "Das Buch Alice"
Dr. Karina Urbach recherchierte für das Buch über ihre Großmutter auch zu BucharisierungenBild: Dan Komoda

"Wir haben bis heute keinen Begriff, für das, was Alice und anderen jüdischen Sachbuchautoren geschehen ist", sagt Karina Urbach dazu. "Wenn wir von Bucharisierung sprechen, dann haben wir in der Wissenschaft Bücher gemeint, die aus jüdischen Bibliotheken stammen und gestohlen wurden und jetzt restituiert werden. Der Sachtatbestand, dass man das geistige Eigentum gestohlen hat, darüber hat noch niemand geforscht. Bei meiner Recherche über Alice dachte ich, dass sie ein Einzelopfer ist, aber nein."

Nur einige wenige Fälle sind bisher bekannt. Etwa der von Ludwig Reiners, der für seinen Bestseller "Stilkunst" vom jüdischen Autor Eduard Engels abgeschrieben hat. Wie viele jüdische Autoren davon betroffen sind, weiß niemand.

Cover - "Das Buch Alice" von Karin Urbach
Kein Einzelfall: "Das Buch Alice" geht über die Geschichte der Großmutter hinaus

Fakt ist: "Diese Methode wurde von Wissenschaftsverlagen mehrfach benutzt", sagt Karina Urbach. Im Fall von Alice wurde das Vorwort neu geschrieben, einige Kapitel paraphrasiert, das meiste jedoch einfach so übernommen. Mehr noch: Sogar die Bilder, auf denen ihre Hände zu sehen waren, wurden abgedruckt. "Das zeigt diesen Wahnsinn der Rassenlehre. Man hat damals gesagt, jüdische Bücher seien minderwertig, und der Verlag hat trotzdem ihre jüdischen Hände abgebildet."

Bucharisierung: Ein Kapitel deutscher Geschichte, das bis dato noch gar nicht beleuchtet wurde. Nicht zuletzt auch deswegen, weil Arisierungsakten von den Archiven lange Zeit zurückgehalten wurden. Mehr noch: Die Verlage selbst scheuen sich, in die eigene Vergangenheit zu blicken. Doch es gibt Fortschritte: "Ich habe eine sehr erfreuliche Nachricht vom Verlag erhalten. Sie haben angeboten, Alices Buch als E-Book anzubieten", sagt Karina Urbach.

85 Jahre nach dem Erscheinen des Buches soll Alice Urbachs Urheberrecht schließlich rehabilitiert werden. Ein großer Erfolg für Karina Urbach - und ein möglicher Beginn der Auseinandersetzung mit diesem unbekannten Kapitel deutscher Geschichte.

Karina Urbach: "Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten", Propyläen Verlag, 2020.

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin