Brexit-Verhandlungen: Kein weißer Rauch
14. Oktober 2018Am Nachmittag stieg bei den Beobachtern in Brüssel die fieberhafte Erwartung: Brexit-Minister Dominic Raab wurde von EU-Unterhändler Michel Barnier zu einem unangemeldeten Kurzbesuch am Verhandlungstisch erwartet. Das konnte zweierlei heißen: Zum einen dass Raab sich angesagt hatte, um seine Unterschrift unter das fertige Abkommen zu setzen. Oder dass es in letzter Minute noch Klärungsbedarf bei einer entscheidenden Frage gibt, die nur der Minister selbst beantworten könnte.
Die Spekulationen schossen ins Kraut, die Verhandlungsführer seien kurz vor dem Durchbruch, noch am Abend werde der gordische Knoten durchschlagen. Dann aber fuhr Raabs Wagenkolonne nach etwas über einer Stunde wieder ab und es wurde schnell klar, dass dieser Ballon geplatzt war. Man habe lediglich verhandelt, es gebe keine Einigung, hieß es.
Die Zeit wird knapp
Noch am Abend wurden die EU-Botschafter der 27 Mitgliedsländer in Brüssel einberufen und über den Stand der Dinge informiert. Sie wären in der formellen Beschlusskette der EU die ersten gewesen, die eine Einigung abgesegnet hätten. Geplant war dann, dass bereits Montagnachmittag die Sherpas der Regierungschefs eingebunden würden, die wiederum die Entscheidung der Europaminister am Dienstag in Luxemburg vorbereiten müssen.
Das Sherpa-Treffen wird wohl abgesagt, auch der geplante Pressetermin von Barnier und Raab am Montagabend ist damit hinfällig. Die Zeichen deuten derzeit darauf hin, dass es bis zum Mittwochabend und dem entscheidenden Gipfel-Dinner keine Einigung gibt.
Noch wäre am Montag Zeit, die Gespräche bis zum frühen Abend voranzutreiben, aber in einer zentralen Frage fehlt offenbar die Zustimmung aus London. Da nützen auch weitere diplomatische Bemühungen in Brüssel nichts: Die Verhandlungen sind kurz vor Ende erneut gegen die Wand gefahren.
Jetzt rast die Zeit, denn Ratspräsident Donald Tusk hat angekündigt, wenn bis Mittwoch keine grundsätzliche Einigung da sei, werde er im November einen Sondergipfel zur Vorbereitung eines ungeordneten, eines No-Deal-Brexit einberufen. Auch das ist eine strategische Drohung, es ließe sich immer noch eine weitere Frist einschieben, aber der letztmögliche Termin wäre tatsächlich der sogenannte Weihnachtsgipfel Mitte Dezember, um noch die nötigen Ratifizierungsprozesse abzuwickeln. Es bleiben also noch zwei Monate.
Rückfallversicherung für Nordirland
"Backstop" heißt die Konstruktion in der Brexit-Sprache, die nach dem Willen der EU sicherstellen soll, dass es nach dem Brexit keine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geben darf. Was Brüssel vorschlägt, beinhaltet eine engere Anbindung der Region an EU-Regeln. Die Unionisten in der britischen Regierung lehnen das kategorisch ab. Das Treffen in der vergangenen Woche zwischen Michel Barnier und der Chefin der nordirischen DUP, Arlene Foster, soll angespannt und feindlich gewesen sein.
Seitdem hat jedenfalls die DUP - Premierministerin Theresa Mays Mehrheitsbeschafferin - ihren Ton in London noch einmal verschärft: Sie werde nicht den kleinsten Unterschied zwischen den Regelungen in Großbritannien und Nordirland zulassen. Die zehnköpfige Unionisten-Fraktion droht inzwischen sogar damit, zur Strafe in zwei Wochen den britischen Haushalt 2019 im Parlament durchfallen zu lassen.
Die Premierministerin hatte angesichts dieser verfahrenen Situation zuletzt vorgeschlagen, das gesamte Königreich könne für eine Übergangszeit weiter in der Zollunion bleiben. Damit würden Grenzkontrollen weitgehend, wenn auch nicht völlig, überflüssig und der Streit in die Zukunft verschoben. In diesem Fall aber könnte Handelsminister Liam Fox nicht wie erhofft separate Handelsverträge mit Drittländern abschließen, worin ja angeblich einer der großen Vorzüge des Brexit für Großbritannien liegen soll.
Theresa May will deswegen, um ihre Brexiteers zu beruhigen, den geplanten Verbleib in der Zollunion befristen. Dazu sagt wiederum die EU kategorisch nein, auch weil sie weiß, dass das Problem dann in zwei oder drei Jahren wieder auf dem Tisch liegt. Um Zeit zu gewinnen, hat die britische Seite unterdessen auch schon eine Verlängerung der Übergangszeit oder eine eingebaute Überprüfungsklausel vorgeschlagen. Aber an diesem Punkt stecken die Gespräche weiter fest. Beide Seiten können oder wollen nicht nachgeben.
Alle weiteren Einzelheiten des Scheidungsvertrages sind inzwischen verhandelt. 85 Prozent sind abgestimmt, erklärten EU-Diplomaten auch vor diesem Sonntag, aber die fehlenden zehn bis 15 Prozent scheinen nach wie vor unüberwindbar.
Rebellion gegen Theresa May
Währenddessen brennt bei der britischen Premierministerin das Haus. Ihr früherer Brexitminister David Davis, der im Sommer wegen ihres sogenannten Chequers-Plans zurückgetreten war, rief am Sonntag in der Zeitung "The Times" offen zur Rebellion auf. Jetzt sei es an der Zeit, dass das Kabinett sich gegen die Premierministerin auflehnen müsse, um einen Brexit zu verhindern, der den Namen nicht verdiene. Seine EU-kritischen Parteifreunde Ex-Außenminister Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg sprechen gern von "EU-Knechtschaft" und dem Königreich als "Vasallenstaat".
Einige jüngere Minister aus dem Brexit-Lager überlegen angeblich, wegen einer möglichen Fortsetzung der Zollunion mit offenem Ende ebenfalls den Hut zu nehmen. Die DUP droht mit totaler Revolte und agitiert für einen No-Deal-Brexit. Angeblich sollen schon 44 Anträge für eine Misstrauensabstimmung gegen May vorliegen - 48 Anträge würden das Verfahren auslösen.
Mays Lage ist prekär. Es ist nicht nur unklar, ob sie für einen Brexit-Deal eine Mehrheit im Parlament hätte, es ist auch unklar, ob sie politisch bis Ende November oder gar Mitte Dezember überlebt. May will ihre Kollegen angeblich am Montag über die Situation unterrichten, für den Dienstag war ein Beschluss in der regulären Kabinettssitzung geplant. Aus Brüssel kommt wohl derzeit keine rettende Zauberformel - am Sonntagabend sind die Unterhändler ja mit leeren Händen nach Hause gegangen.