Brexit: Die Verlängerung kommt - aber später
25. Oktober 2019Die EU-Regierungschefs haben keine Lust mehr, sich mit dem Brexit und seinen unendlichen Umdrehungen selbst zu befassen. Sie überlassen das jetzt den Botschaftern in Brüssel, die auf Anweisung ihrer Hauptstädte handeln. Und weil es intern keine richtige Einigkeit über den Zeitrahmen gab, kam man zu einem salomonischen Ergebnis: Es gibt eine weitere Verlängerung für den Brexit, nur der Zeitraum bleibt bis nächste Woche offen. Damit soll Druck auf London ausgeübt werden.
Frankreich zeigt sich bockig
Schon bei der ersten Brexit-Verlängerung im Frühjahr hatte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron quer gestellt und wollte den Briten weniger als ein halbes Jahr Extra-Zeit einräumen. Er ließ sich damals von Angela Merkel und anderen Regierungschefs überzeugen. "Verschwendet die Zeit nicht", hatte Ratspräsident Donald Tusk damals die Briten noch ermahnt.
Wie man weiß, kam es anders: Nach einem Regierungswechsel in London gibt es inzwischen zwar einen neuen Austritts-Deal, aber Boris Johnson ist es bisher ebenso wenig gelungen, ihn durch das Parlament zu boxen, wie seiner Vorgängerin Theresa May. Der Fortschritt seitdem liegt also bei exakt Null.
Was der französische Präsident wirklich mit seinem Widerstand gegen eine zweite Verlängerung von drei Monaten beabsichtigt, ist nicht ganz klar. Man wolle erst sehen, wie es politisch in London weiter geht, hatte seine Europaministerin Amélie de Montchalin erklärt. Denn eigentlich will die EU die Frist nur dann verlängern, wenn es einen guten politischen Grund dafür gibt, und das wären entweder Neuwahlen oder ein zweites Referendum. Tatsächlich aber ist man sich einig, dass nicht die EU Großbritannien über die Brexit-Klippe stürzen wird. Die Briten müssen schon selber springen, und es gibt auch bei den Europäern ein starkes Interesse an einem geordneten Ausstieg, also mit einem Deal. Der Verdacht besteht, dass Macron in Brüssel nur ein bisschen seine Macht zeigen will.
Die EU tut London den Gefallen nicht
Jetzt sind beide Seiten in der absurden Situation, dass London eigentlich abwarten wollte, was die EU in punkto Verlängerung bietet. Und das gleiche gilt umgekehrt: Die EU will eigentlich sehen, ob und welchen Fortschritt es im Unterhaus gibt, während sowohl die britische Regierung wie auch die Opposition auf eine Vorgabe aus Brüssel gewartet haben. Die EU aber tut ihnen den Gefallen nicht und gibt keinen Fingerzeig für den Fortgang der Ereignisse, so dass die britische Seite allein ihren Weg aus der Sackgasse finden muss.
Spätestens am kommenden Dienstag oder Mittwoch aber werden die Botschafter in Brüssel dann doch die von Boris Johnson zähneknirschend erbetene drei Monate Verlängerung rausrücken müssen, schließlich steht die Brexit-Uhr immer noch auf Donnerstag, den 31. Oktober, 24.00 Uhr.
Bei Labour tobt ein wilder Kampf um die Neuwahlfrage
In London belauern sich unterdessen Regierung und Opposition und überlegen die nächsten Winkelzüge. Premierminister Boris Johnson fordert von der Opposition die Zustimmung zu Neuwahlen am 12. Dezember, sonst werde er die Vorlage zum Austritts-Umsetzungsgesetz zurückziehen und sich nur noch auf Wahlkampf konzentrieren. Der Premier ist hier nämlich frustrierend machtlos: Er braucht eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für vorgezogene Neuwahlen. Die schafft er aber nicht, solange sich die Labour Party quer stellt.
Labour aber behauptet, dass Boris Johnson nicht zu trauen ist und man zunächst jede Gefahr eines harten Brexit ausräumen wolle. Im Prinzip, so erklärte Parteichef Jeremy Corbyn gerade einmal mehr, sei man natürlich bereit zu Wahlen und wolle sie auch gewinnen. Tatsächlich zeigen die Umfragen, dass die Tories durchgehend rund zehn Prozentpunkte vor Labour liegen. Andererseits waren solche Umfrageergebnisse in den letzten Jahren durchgehend falsch. Worauf also setzen?
Intern tobt in der Labour Party ein wilder Kampf um die Neuwahlfrage. Die Labour-Abgeordneten halten Johnsons Forderung für eine Falle, fürchten bei einer Wahl vor Weihnachten schlecht abzuschneiden, ihre Mandate zu verlieren und auch noch die Tür für einen rein konservativ bestimmten Brexit zu öffnen. Die Mehrheit der Abgeordneten zielt daher auf spätere Wahlen, wenn der Brexit-Frust sich eventuell doch gegen Boris Johnson wenden und die Opposition auch mit anderen Themen punkten könnte. Das Ganze erinnert an ein Mikado-Spiel, wo verliert, wer sich zuerst bewegt.
Boris Johnson ebenfalls ratlos
Aber wird Boris Johnson wirklich das Austrittsgesetz zurückziehen und damit den ganzen Brexit-Prozess in einen Zustand versetzen, in dem es über Wochen weder vor noch zurück geht? Die Verkündung des nächsten Haushalts Anfang November hat er bereits zurückgestellt, das Land fährt also finanziell vorläufig auf Sicht. Tatsächlich aber hat Boris Johnson Angst, seine Widersacher im Unterhaus könnten ihm während der Beratungen allerhand Auflagen in das Austrittsgesetz hineinschreiben und ihm erneut die Hände binden. In Frage käme etwa die Verpflichtung, eine Zollunion mit der EU einzugehen, die Übergangsperiode auf jeden Fall zu verlängern oder sogar ein zweites Referendum anzuberaumen.
Weigert sich die Opposition aber weiterhin, Neuwahlen vor Weihnachten zuzulassen, dann bleiben dem Premierminister noch zwei Optionen. Er kann versuchen, sie mit einem einfachen Gesetz zu erzwingen. Dafür braucht er auch nur eine einfache Mehrheit, aber seine Gegner können es abändern, was das Datum oder andere Konditionen angeht. Die nukleare Möglichkeit wäre schließlich, dass Johnson einen Misstrauensantrag gegen sich selbst stellt, um so Neuwahlen zu erzwingen. Aber erstens könnten die Wähler das missverstehen, und zweitens hat die Opposition danach 14 Tage Zeit, sich auf einen eigenen Übergangs-Kandidaten zu einigen. Beide Seiten trauen derzeit einander nicht über den Weg, was jede Lösung der gegenwärtigen Pattsituation schwierig macht.
Voraussichtlich am Montag soll über den Neuwahlantrag im Unterhaus abgestimmt werden. Aber nichts ist sicher, und drei Tage sind derzeit eine lange Zeit in der britischen Politik. Klar ist nur eines: Großbritannien wird am 31. Oktober nicht aus der EU austreten, was sogar konservative Brexiteers inzwischen einräumen. Boris Johnson müsste eigentlich jetzt einen Graben buddeln, in den er sich zum Sterben legen könnte. Und die Regierung hat die Anzeigenkampagne "Get ready for Brexit" zurückgezogen, die angeblich 100 Millionen Pfund gekostet haben soll. Vielleicht kann man sie ja Ende Januar 2020 oder irgendwann später wieder aufwärmen.