Brexit: Blick nach vorn in Angst
25. März 2019Die Brick Lane im Osten Londons ist seit langem bekannt für ihren multikulturellen Bewohnermix und seit einiger Zeit auch für ihre schnell fortschreitende Gentrifizierung. In der Straße reihen sich Retro-Läden an indische Curry-Restaurants, einen Markt mit veganen Lebensmitteln und das berüchtigte Cereal Killer Cafe, ein Müsli-Laden, der 2015 zum Ziel der Proteste von Gentrifizierungsgegnern wurde.
Mittlerweile gibt es einen anderen Grund zur Sorge für die Menschen, die hier wohnen und arbeiten: Sie versuchen herauszufinden, wie der Brexit ihr Leben verändern wird.
Vor einem Stand mit holländischen Pfannkuchen steht Linda Richmond in der Schlange. Die 60-Jährige bewirbt sich gerade um einen irischen Pass, weil sie dort Familie hat. Sie sei "verängstigt", sagt sie. "Ich weiß nicht, was passieren wird." Sie arbeitet als Palliativ-Krankenschwester in einem Hospiz und befürchtet, dass sie die Medikamente für ihre Patienten nicht mehr bekommt.
Ihr 25-jähriger Sohn Christopher ist Lehrer und würde gerne im Ausland arbeiten. "Wir möchten Teil einer großen Ländergruppe sein statt auf uns allein gestellt."
Tareq Iqbal steht in der Tür des indischen Restaurants Preem, das seine Familie seit fast fünf Jahrzehnten besitzt. Der 30-Jährige besitzt zwei Jobs: Seine Schicht im Supermarkt hat er bereits hinter sich gebracht, jetzt hilft er im Restaurant mit. "Wir wollen den Brexit, aber wir wollen auch einen guten Deal", sagt er.
So oder so werde das Vereinigte Königreich schon klarkommen, denkt er. "Großbritannien ist kein Dritte-Welt-Land. Hier gibt es keinen größten anzunehmenden Unfall. Großbritannien kommt auch ohne die anderen klar. China, Japan, die meisten Commonwealth-Staaten - die wachsen ja auch. Wenn wir mit denen zusammenarbeiten, werden wir das reichste Land sein."
Brexit gefährdet Kunstmarkt
Die Galerie S O in der Brick Lane vertritt Künstler aus dem Vereinigten Königreich und dem Ausland. Chefin Katharina Dettar ist 30, hat einen deutschen und spanischen Hintergrund und sagt, der Brexit sei "Bullshit": "Wenn aufgrund der Wirtschaft Mittel gekürzt werden, hat das natürlich große Auswirkungen. Wenn das britische Pfund fällt, dann müssen wir immer noch viele unsere Künstler in Euro bezahlen, und das kann hier die Preise hochtreiben."
Gerade erst hat die Galerie eine Ausstellung vorzeitig beendet, um sicherzustellen, dass Objekte auf dem Weg nach Europa vor dem 29. März den Zoll passieren - für den Fall eines harten Brexits ohne Abkommen. "Wir wollten nicht riskieren", erklärt Dettar, "dass diese wertvollen und teuren Stücke beim Zoll festsitzen, während wir keine Ahnung haben, wie es weitergeht."
Der Brexit werde die ganze Kunstszene beeinträchtigen, glaubt die Galerie-Managerin. "Unsere Galerie ist in London wegen seiner internationalen und Kulturszene. Hier kommen Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zusammen. Damit könnte nach dem Brexit Schluss sein, sie könnten alle ausreisen - was bleibt dann noch für Londons Kunst- und Kulturszene? Ich weiß es nicht."
"Ein heilloses Durcheinander"
Draußen auf der Straße nennt der 23-jährige Andy den Brexit "dumm". Als polnischer Wirtschaftsfachmann, der in Spanien aufgewachsen ist, sagt er: "Großbritannien wird es niemals so gut gehen, wie es der Fall wäre, wenn es in der EU bliebe. Darum hoffe ich auf ein zweites Referendum."
Andy vergleicht das mit einem Restaurantbesuch: "Sie lassen dich zwischen Fisch und Fleisch wählen. Du wählst den Fisch, und dann sollst Du dich zwischen giftigem Fisch und Fischabfall entscheiden. Du wirst also versuchen, zur ursprünglichen Option zurückzukehren und das Fleisch zu wählen."
"Großbritanniens Gesicht ist verunstaltet"
An seinem Marktstand an der Brick Lane nennt der 31-jährige Londoner Stacey Anguilet den Brexit "eine Qual". Die britische Regierung hat die Öffentlichkeit bei den Verhandlungen mit Brüssel nicht ausreichend einbezogen, findet er. "Was wird die Regierung für kleine Unternehmen tun, die infolge des Brexit kämpfen müssen? Dafür haben kleine Firmen keine Vorsorge getroffen."
Die Kosten steigen für Betriebe wie seinen, sagt Anguilet, der darauf angewiesen ist, sowohl Zutaten zu importieren als auch fertige Produkte zu exportieren. "Die Arbeit ist mehr geworden. Unser Alltagsgeschäft ist betroffen, denn die Hälfte der Zeit suchen wir nach Wegen, um Geld einzusparen."
Auch Anguilet glaubt, viele seiner Landsleute hätten in dem Referendum 2016 allein aufgrund ihrer Ansichten zur Einwanderung abgestimmt und nicht darüber nachgedacht, was danach kommt. "Das Gesicht Großbritanniens ist durch den Brexit verunstaltet. Meine deutschen Freunde haben immer gesagt, bei uns wäre alles geordnet. Jetzt stellen sie fest, dass wir genauso chaotisch sind wie sie."