Brexit-Architekt Dominic Cummings tritt ab
13. November 2020Mit drei Wörtern wird Dominic Cummings in die britische Geschichte eingehen: "Take back control". Doch anstatt "die Kontrolle zurückzuholen", wie die von ihm ersonnene Brexit-Kampagne versprach, machte Cummings in wenigen Monaten aus dem Vereinigten Königreich eine gespaltene Nation. Als sich die ominösen 350 Millionen Pfund, die London angeblich jede Woche nach Brüssel überweise, längst als Lüge entpuppt hatten, war der Zug, der die Briten aus der Europäischen Union herausführen sollte, nicht mehr zu stoppen - und auch Cummings' Karriere nahm Fahrt auf.
Als im Juli 2019 abermals ein Politiker mit aufsehenerregender Frisur und isolationistischen Vorlieben die internationale Bühne betrat, fuhr Cummings gleichsam als Tender mit der schnaubenden Lokomotive in die Regierungszentrale: Boris Johnson, der frischgebackene Tory-Chef und Premier, machte den Althistoriker zu seinem Chefstrategen, und die beiden Oxford-Absolventen verschärften die Tonlage im Chor, drohten fortwährend mit einem "No Deal"-Brexit und vertieften systematisch die Kluft zwischen EU-Freunden und -Gegnern.
Spalter halten zusammen
Die Spalter an der Spitze hielten lange Zeit eng zusammen, auch dann noch, als Cummings die öffentliche Meinung ausnahmsweise nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst richtete, selbstredend unfreiwillig. Im Mai hatte der Sohn eines Projektleiters für Erdölbohrungen die Briten, die unter Ausgangsbeschränkungen wegen der COVID-19-Pandemie ächtzten, gegen sich aufgebracht: Er war verbotenerweise mit seiner infizierten Frau in den Nordosten Englands gefahren, zu seinen Eltern, die über 70 Jahre alt waren und nach den behördlichen Vorgaben keine Besucher hätten empfangen dürfen. Johnson beschwichtigte - trotz wogenden Zorns in den Medien - und Cummings blieb.
Doch diesmal hat es für den Strippenzieher in Downing Street nicht mehr gereicht. Der 48-Jährige, der sich nach dem Studium einige Jahre im postsowjetischen Russland bei diversen Projekten verdingt hatte, kam am Gipfelpunkt seiner Laufbahn wie ein einfacher Möbelpacker aus dem Amtssitz des Premierministers: mit schwarzen Jeans und bequemen Sportschuhen - und mit einem Archivkarton, in dem Fotografen seine persönlichen Unterlagen wähnten. Es war jener "Schlabberlook", über den sich die Presse bisweilen mokierte und der seine Andersartigkeit inmitten der Anzugträger von Westminster unterstrich.
"Dumm wie Brot, dick wie eine Frikadelle"
Dass Cummings keine Kontroverse mit dem Establishment scheute, hatte er vielfach bewiesen. So nannte er etwa den ehemaligen Brexit-Minister David Davis "dumm wie Brot, dick wie eine Frikadelle und faul wie eine Kröte". Mitte der Woche allerdings hatten sich die Gefechte in den engsten Führungszirkel verlagert. Vieles blieb im Dunkeln, doch das Ränkespiel brachte gleich mehrere Figuren zu Fall: Am Mittwoch nahm Johnsons Kommunikationschef Lee Cain den Hut, der als oberster Spindoktor galt - auch er ein maßgeblicher Kopf hinter der "Vote Leave"-Kampagne für den EU-Austritt. Kurz zuvor war der Cummings-Buddy noch als Anwärter für den wichtigen Posten des Stabschefs gehandelt worden.
Londons Hauptstadtpresse analysierte genüsslich die mutmaßlichen Winkelzüge einer großen Intrige, doch Details des Machtkampfs drangen bisher nicht nach draußen. Auch Oppositionschef Keir Starmer polterte am Donnerstagmorgen eher vage im Radio: "Wir sind mitten in einer Pandemie, wir sorgen uns alle um unsere Gesundheit und unsere Familien - und dieser Haufen zankt sich hinter der Tür von Downing Street 10." Cummings wurde vom Gegenwind frontal erfasst, konnte sich aber, wie es scheint, zumindest einen gesichtswahrenden Abgang sichern: Während die BBC unter Berufung auf Insider verkündet hatte, der Mann, der wie wenige andere polarisierte, werde mit sofortiger Wirkung geschasst, melden mehrere Nachrichtenagenturen, Cummings werde seinen Posten offiziell erst Mitte Dezember aufgeben.
"Fast alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben oder ihm auch nur begegnet sind, sehen in ihm Irrsinn und Genius zusammenfließen", schrieb einmal die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über den Aufsteiger, der es wie wenige andere versteht, mit Sprache die Massen zu lenken - vor allem dann, wenn er andere, Mächtigere sprechen lässt. Die Denkfabrik "Zentrum Liberale Moderne" konstatierte, für die einen sei Cummings "ein genialer Stratege, der alles dafür tut, sich in einem Machtkampf durchzusetzen" (was nun offenbar misslang); für seine Gegner jedoch sei er "ein impulsiver und gefährlicher Chaot, der alles aufs Spiel setzt".
Fassungslosigkeit und Fatalismus
Das alles wäre nichts weiter als eine britische Posse, sollte nicht gerade in diesen Tagen der Londoner Emissär David Frost mit Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier einen umfassenden Handelspakt mit der EU unter Dach und Fach bringen. Die Zeit ist quasi verstrichen - ein Abkommen müsste schon zu Jahresanfang in Kraft treten. Ursprünglich sollte bis Mitte Oktober ein Vertragstext stehen, dann bis Ende Oktober. Zuletzt hieß es aus dem Europäischen Parlament, noch in dieser Woche müsse der Durchbruch gelingen. Doch diese Woche wird es wohl wieder nichts.
Die Europäische Union betrachtet das Chaos auf der Insel inzwischen offenbar als Fortsetzung einer Politsatire - und kommentiert die Ereignisse mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Fatalismus: Man mache nächste Woche in Brüssel weiter, sagte ein Sprecher der EU-Kommission lapidar.