Empörung über Chefberater Cummings
25. Mai 2020Diesmal stand nicht Johnsons Corona-Strategie in der Kritik, sondern sein engster Berater Dominic Cummings. Dieser ist bekannt als "Mastermind" des Brexits und maßgeblich beteiligt an Johnsons Aufstieg zum Premierminister. Nur so ist auch zu erklären, dass sich Boris Johnson hinter seinen Chefberater stellt, der sich inmitten der Coronakrise über die Ausgangsbeschränkungen hinweggesetzt hat.
Cummings sei "den Instinkten eines Vaters" gefolgt und habe "in jeder Hinsicht verantwortlich, legal und mit Integrität" gehandelt, verteidigte Johnson seinen Berater. Er habe schließlich die Betreuung für seinen vierjährigen Sohn sicherstellen wollen.
Ende März war Cummings mit seiner Frau und seinem Sohn im Auto - bereits mit COVID-19 infiziert - zu seinen über 70-jährigen Eltern nach Durham im Nordosten Englands gefahren. Seine Frau war nach eigener Darstellung bereits an COVID-19 erkrankt.
Die Richtlinien der Regierung zu diesem Zeitpunkt waren deutlich: "Bleibt zu Hause! Verlasst das Haus nur zum Einkaufen, um anderen zu helfen, für medizinische Notfälle oder zum Arbeiten, wenn unbedingt nötig." Wer Symptome der Krankheit zeigte, sollte sich vollständig isolieren. Menschen über 70 - wie Cummings Eltern - durften zudem keine Besucher empfangen.
Schwache Reaktion
Gleich mehrere Verstöße also von Dominic Cummings, der dafür bekannt ist, es mit Regeln und der Wahrheit nicht so eng zu nehmen. Inzwischen hat Cummings die massive Kritik an seiner Reise zu Verwandten mitten in der Coronakrise zurückgewiesen.
"Ich bedaure nicht, was ich getan habe", sagte er an diesem Montag im Rosengarten des Regierungssitzes in London. Er habe den Umständen entsprechend "vernünftig und angemessen" gehandelt, sagte Cummings. Er habe nur einmal seine Eltern mit seiner Familie besucht. Britische Zeitungen hatten berichtet, dass Cummings mehrfach während der Pandemie von London ins rund 430 Kilometer entfernte Durham zu seinen Verwandten gefahren war.
"Nicht zu entschuldigen"
Doch längst stellen sich auch Mitglieder von Johnsons Partei gegen den Berater. Der Tory-Abgeordnete Paul Maynard zum Beispiel: "Das ist doch ein klassischer Fall von: Tu, was ich dir sage, und nicht, was ich selber tue. Er kannte die Richtlinien, er hat sie doch selbst erarbeitet. Das ist nicht zu entschuldigen."
Unverständnis herrscht auch darüber, warum sich Johnson hinter seinen Berater stellt: So äußert sich ein Kabinettsmitglied anonym: "Boris Johnson opfert seine eigene Glaubwürdigkeit, nur um Dominic Cummings zu retten."
Und auch mehrere Wissenschaftler, die Johnson in diesen Wochen beraten haben, sind schockiert über die Entwicklungen, wie der Verhaltensforscher Stephen Reicher: "In wenigen Minuten hat Boris Johnson all die Empfehlungen, die wir über Wochen ausgegeben haben, damit sich die Bevölkerung an die Maßnahmen hält, über Bord geschmissen."
Viele Briten sind tief empört über Dominic Cummings Verhalten. Seit nunmehr zwei Monaten muss sich die Bevölkerung an die strikten Ausgangsbeschränkungen der Regierung halten. Und ein Ende des Lockdowns ist in Großbritannien im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern nicht in Sicht.
Trauerfeier im Internet
In einem vernichtenden Gastbeitrag für die britische "Times" schreibt eine vierfache Mutter, die ursprünglich ebenfalls - wie Cummings - aus dem nordöstlichen Durham kommt: "Nächste Woche ist die Beerdigung eines Schulfreundes, an der ich im Internet teilnehmen muss, weil ich nicht wie Cummings einfach mal nach Durham fahren kann."
Eine andere Mutter, Rachel Stevenson, beschreibt ihre Sorgen im Lockdown. Auch sie habe sich viele Gedanken darüber gemacht, was wäre, wenn ihr Mann und sie an COVID-19 erkrankten und sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern könnten. Niemals allerdings sei sie auf die Idee gekommen, zu ihren Eltern nach Durham zu fahren. Andere hielten sich nämlich an die Regeln.
Auf einer Nachbarschaftsplattform im Netz, auf der es normalerweise nicht um Politik geht, erhitzen sich die Gemüter: "Cummings hat die Regeln gebrochen, er muss sofort zurücktreten." Oder auch: "Cummings macht die Regeln, hält sich aber selber nicht dran. Das ist arrogant." Nur eine Frau kommt in dem Thread zu seiner Rettung: "Ich mag den Typ zwar nicht, aber ich hätte genau das Gleiche für meine Familie gemacht."
Mit guten Beispiel voran?
Anderswo im Netz, auf der Kampagnenplattform change.org, forderten am Montag bis zwölf Uhr mittags 250.000 Menschen den Rücktritt Cummings. Ein Nutzer schreibt unter die Petition: "Tausende trauernde Familien können ihre Angehörigen nicht mehr sehen, bevor sie sterben - NIEMAND, der das Gesetz missachtet, sollte entschuldigt werden. Vor allem nicht No. 10 Downing Street!"
Ein anderer schreibt: "Es scheint Regeln für das einfache Volk zu geben und andere Regeln, die in Westminster gelten. Was ist denn aus 'Mit gutem Beispiel voran gehen' geworden?'. Es ist doch keine Entschuldigung, quer durchs Land zu reisen, weil man die Unterstützung der Familie braucht. Wir anderen müssen uns doch auch auf Freunde und Online-Dienstleister verlassen, wenn wir in der häuslichen Quarantäne sind."
Es ist eben diese Doppelmoral, die viele Briten wütend macht: Dass Cummings seinen Worten eben nicht Taten folgen ließ. Einige Briten waren so aufgebracht, dass sie am am Wochenende vor Cummings Haus im Norden Londons protestierten.
Der öffentliche Druck auf Johnsons Topberater, seine Position aufzugeben, wächst. Am Dienstagabend - so fordert ein britischer Satiriker - soll die Bevölkerung um 20 Uhr - angelehnt ans Klatschen für Ärzte und Pfleger - nun gemeinsam Boris Johnson ausbuhen. So lange bis Cummings weg ist. Britische Buchmacher, die bereits so häufig den Ausgang von zukünftigen Ereignissen vorhergesagt haben, setzen allerdings darauf, dass Cummings seine Position zumindest bis zum 1. Juni beibehält.
Der Artikel wurde nach dem öffentlichen Statement von Cummings ergänzt. (ack/pf mit dpa)