Bremen im Ausnahmezustand
14. Mai 2016Stolz präsentierte Christian ein ziemlich großes Stück Rasen als er aus dem Weserstadion kam. Ihm folgten zahlreiche andere Fans mit ähnlichen Fundstücken aus der Arena von Werder Bremen. Gemeinsam lagen sie sich in den Armen, sangen und jubelten über den Klassenerhalt, welchen ihre Mannschaft durch den 1:0-Erfolg gegen Eintracht Frankfurt an diesem Nachmittag perfekt gemacht hatte. "Das war ein verrücktes Spiel, aber wir haben verdient gewonnen", versuchte Christian seine Emotionen in Worte zu fassen. Papy Djilobodji erlöste Bremer Fans, Spieler und Verantwortliche wenige Minuten vor dem Schlusspfiff. Sein Treffer war gleichzeitig der Startschuss für eine grün-weiße Party, die es in Bremen lange nicht gegeben hatte. "Wir haben als Mannschaft nichts geplant. Aber ab jetzt gibt es Party bis morgen früh um sieben", kündigte Anthony Ujah nach dem Spiel freudig an.
Abstiegskampf mal anders
Rückblick: Bereits drei Stunden vor dem Anpfiff wurde vor dem Stadion ordentlich gefeiert. Fahnen wurden geschwenkt und immer wieder Lieder angestimmt. Keine Spur von Aggressionen oder wütenden Fans - Szenen, die in solch schwierigen Situationen oft zum Alltag gehören, waren in Bremen nicht zu sehen. Hier funktioniert Abstiegskampf anders, hier steht eine ganze Stadt geschlossen hinter dem Verein. Die Fans haben ihren Klub in den vergangenen Wochen immer positiv unterstützt und immer wieder durch Aktionen motiviert. Auch vor dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt war es wieder soweit: die "Green-White-Wonderwall" sorgte für einen letzten Motivationsschub der Werder-Profis. Im Mannschaftsbus fuhr das gesamte Team im Schritttempo durch einen Fan-Spalier und wurde lautstark angefeuert. Auch Bremens Bürgermeister bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge und zeigte mit seinem grünen Sakko für welchen Klub sein Herz schlägt.
Motivation durch Werder-Amateure
Im Stadion das gleiche Bild: Enthusiastische Fans, die es nicht auf ihren Sitzschalen hielt. Denn getreu dem Motto "Mors hoch", was frei übersetzt so viel heißt wie "Arsch hoch", standen alle Zuschauer im Stadion während der gesamten 90 Minuten. Die grün-weißen Klatschpappen sorgten für einen Lärmpegel, der auch den letzten Fan von seinem Sitz riss. "SV Werder, Olé" und "Nur der SVW"-Anfeuerungsrufe machten aus dem Weserstadion ein Tollhaus. Keine Spur mehr von der so genannten norddeutschen Zurückhaltung.
Zusätzliche Motivation gab es in der zehnten Minute. Stadionsprecher Arndt Zeigler verkündete, dass sich Bremens Nachwuchsteam durch einen Erfolg gegen Aalen den Klassenerhalt in der 3. Liga sichern konnte. Applaus auf den Rängen und die leise Hoffnung, dass die Profis nachziehen würden. Nur wenige Minuten später hallte ein weiterer Jubelschrei durch das Weserstadion: die Wolfsburger Führung gegen den VfB Stuttgart wurde angezeigt und entsprechend gefeiert. Unbeeindruckt von dem Spielstand gaben die 22 Profis auf dem Rasen weiter alles. Bremen rannte, kämpfte und drängte auf die Führung. Die Gäste aus Frankfurt konzentrierten sich auf ihre stabile Defensive und das Konterspiel.
Kraft tanken in der Halbzeit
Bremen im Vorwärtsgang, doch die bangen Blicke der Fans bei zaghaften Angriffen der Frankfurter waren nicht zu übersehen. Erst durch das 2:0 der Wolfsburger entspannten sich die Gesichtszüge einiger Bremer im Stadion. Der direkte Abstieg war zu diesem Zeitpunkt sehr unrealistisch geworden. Nachdem die Spieler nach einer intensiven ersten Halbzeit mit Applaus in die Pause verabschiedet wurden, durften auch die gut 42.000 Zuschauer endlich einmal durchschnaufen. Es wurde viel diskutiert, beschweren wollte sich über die Leistung im ersten Durchgang aber niemand. Das Team von Trainer Viktor Skripnik kam als erstes aus der Kabine. "Auf geht’s Werder kämpfen und siegen" - erneut gaben die Fans die Marschroute vor.
Frankfurt-Fans feiern zu früh
Und was machten die Gäste? In dem Bewusstsein die Klasse mit einem torlosen Unentschieden halten zu können, zog sich die Eintracht immer weiter zurück und verteidigte mit vollem Einsatz. Auf der Gegenseite brachte Skripnik mit Anthony Ujah eine weitere Offensivkraft ins Spiel, was aber zunächst keine Auswirkungen auf das Spielgeschehen hatte, weil Bremen entweder an der Frankfurter Verteidigung oder an den eigenen Nerven scheiterte. Die Fans dagegen blieben auf einem einheitlich hohen Niveau und schrien ihre Mannschaft nach vorne.
Eine Viertelstunde vor dem Ende initiierte der Frankfurter Block die ersten zaghaften Feierlichkeiten, denn der Klassenerhalt rückte immer näher. Bremen rannte die Zeit davon. Die nervliche Belastung nahm von Minute zu Minute zu. Viele kleine Fouls und Diskussionen bestimmten die letzten Spielminuten - Schiedsrichter Deniz Aytekin musste immer wieder beruhigend eingreifen. Dennoch, mit den Fans im Rücken versuchten die Gastgeber noch einmal alles und kämpften sich wieder vor das Tor der Frankfurter.
Djilobodji - ein Bremer Held
Kurz vor dem Schluss, spitzelte Ujah den Ball in den Fünfmeterraum, von wo aus Djilobodji das Leder über die Torlinie drückte. Der Torschütze sprintete über den gesamten Platz, verlor sein Trikot und ging im Jubel seiner Mitspieler unter. Selbst der sonst so ruhige Bremer Coach hatte seine Emotionen nicht mehr im Griff und rannte unkontrolliert auf den Platz. "Niemals 2. Liga" schallte es von den Rängen - das Stadion verwandelte sich in ein ohrenbetäubendes Tollhaus. Die letzten Sekunden wurden zu einer einzigen Bremer Party.
Mit dem Schlusspfiff brachen endgültig alle Dämme. Skripnik und sein Co-Trainer Thorsten Frings lagen sich in den Armen, Djilobodji und Ujah wurden bejubelt, Kapitän Clemens Fritz schrie seine ganzen Emotionen heraus. Wahnsinn, Bremen hatte es tatsächlich geschafft. Kurze Zeit später hatten auch die Ordner ein Einsehen und öffneten die Tore zum Innenraum. Die Fans strömten auf den Rasen und feierten mit ihrer Mannschaft den verdienten Klassenerhalt. Mehr als eine Stunde später verlagerten sich die Bremer Feierlichkeiten in die Innenstadt. Die Party hatte gerade erst begonnen und dürfte noch einige Stunden angedauert haben, möglicherweise sogar bis Sonntagmorgen um sieben.