Brasiliens Sklavenarbeit auf der Leinwand
14. November 2020Anfang der 90er Jahre in einer Kleinstadt im nordostbrasilianischen Bundesstaat Maranhao: Auf der Suche nach einem besseren Leben bricht der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Abel zu den Goldminen im Amazonasgebiet auf. Monatelang wartet seine Mutter Pureza auf ein Lebenszeichen von Abel - vergeblich. Schließlich macht sich Pureza selbst auf den Weg, begibt sich auf Spurensuche und heuert als Köchin auf einer riesigen Farm an, weil sie Abel dort vermutet. Was sie vorfindet, ist eine Welt voller Unterdrückung und unmenschlicher Sklavenarbeit, die sie sich nie hätte erträumen lassen. Aus der verzweifelten Mutter wird eine Aktivistin.
Die empörende Geschichte, die der brasilianische Regisseur Renato Barbieri in gut eineinhalb Stunden erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. "Brasilien hat 1888 als eines der letzten Länder der westlichen Welt die Sklaverei abgeschafft, aber es war keineswegs ein sauberer Schnitt", erklärt der 62-Jährige. "Am Tag nach der Abschaffung begann die Geschichte der modernen Sklaverei, die es bis heute gibt."
Bereits Zehntausende aus Sklavenarbeit befreit
Laut Schätzungen der Menschenrechtsorganisation "Walk Free Foundation" gab es 2018 um die 369.000 Menschen in Brasilien, die unter sklavereiähnlichen Bedingungen leben. Allein im vergangenen Jahr wurden bei Inspektionen durch das Arbeitsministerium mehr als 1000 Menschen aus der Sklavenarbeit befreit. Die letzte Schlagzeile zu dem Thema kam just diese Woche: 39 Arbeiter, die ohne Trinkwasser und in einem offenen Schuppen kampierten, wurden aus einer illegalen Goldmine gerettet.
Dass es heutzutage überhaupt staatliche Kontrollen gibt, ist auch Menschen wie der echten Pureza Lopes Loyola zu verdanken. "Ihre Denunziationen und die anderer Betroffener und Zeugen haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Regierung 1995 ein Gesetz gegen Sklavenarbeit erließ", erzählt Barbieri. Zuvor hätten Viele nicht gewusst - oder nicht wissen wollen - was vor allem im armen ländlichen Norden Brasiliens geschieht.
Was ist moderne Sklavenarbeit?
Seit der Abschaffung der Sklaverei gibt es zwar kein rechtlich anerkanntes Besitzverhältnis eines (weißen) Menschen über einen anderen (schwarzen) mehr - aber an die Stelle der Fußketten sind wirtschaftliche Abhängigkeiten getreten. Ein wichtiges Merkmal moderner Sklaverei ist laut der "Walk Free Foundation", dass Menschen "Situationen der Ausbeutung aufgrund von Drohungen, Gewalt, Zwang, Täuschung oder Machtmissbrauch nicht verhindern oder verlassen" können. In Brasilien wird Sklaverei auf der rechtlichen Ebene durch die Tatbestände der Zwangsarbeit, der Entlohnung mittels Schuldendienst, der erniedrigenden Arbeitsbedingungen und der unzumutbaren Arbeitszeiten definiert.
Solche Verhältnisse existieren im einwohnerreichsten und größten Land Lateinamerikas laut Historikerin Julia Harnoncourt am häufigsten in der Landwirtschaft, 2018 veröffentlichte sie ihre Forschungsergebnisse in dem Buch 'Unfreie Arbeit: Trabalho escravo in der brasilianischen Landwirtschaft'. "Zu diesem Zeitpunkt gab es die meisten bekannten Fälle von Sklavenarbeit auf Rinderfarmen, genauer gesagt bei der Vorbereitung der Weideflächen, was oft nichts anderes ist als das Roden von Regenwald. Soja- und Zuckerrohranbau spielen ebenfalls eine Rolle, früher auch die Eisenindustrie."
In der Stadt gebe es, wenn auch zahlenmäßig deutlich weniger, ebenfalls unfreie Arbeitsverhältnisse, etwa auf Baustellen oder in der Textilindustrie. Diese Form der Sklavenarbeit betreffe allerdings meistens Migranten.
Teufelskreislauf der Armut
"Insgesamt sind zum Großteil Männer betroffen", erklärt Harnoncourt, die derzeit als Postdoktorandin an der Universität Luxembourg tätig ist. "Es gibt zwar einen Bereich, in dem hauptsächlich Frauen arbeiten, doch der ist sehr unzugänglich: Hausarbeit. Man hört immer wieder, dass in Nordbrasilien indigene Mädchen in wohlhabende Haushalte gelockt werden mit dem Versprechen, zur Schule gehen und Geld verdienen zu können. Und dann kommen sie nicht mehr weg, weil sie keine Mittel haben und niemanden kennen."
Die Arbeiter in der Landwirtschaft fallen auf ähnliche Tricks herein: Auch ihnen wird anfangs erzählt, sie könnten gutes Geld unter fairen Bedingungen verdienen. Auf den abgelegenen Farmen der Großgrundbesitzer angekommen, setzt dann oft die Ernüchterung ein: Plötzlich sollen sie die Reisekosten nachträglich selbst übernehmen, Nahrungsmittel, Werkzeuge, Arbeitskleidung und ihren Schlafplatz zu überteuerten Preisen extra bezahlen. Wie im Film "Pureza" werden ihnen teilweise sogar die Ausweisdokumente abgenommen, sofern sie denn welche haben. Somit wird eine Flucht noch schwieriger. Selbst wenn sie entkommen oder man sie nach ein paar Monaten oder Jahren gehen lässt – viele lassen sich aus Mangel an Perspektiven irgendwann wieder auf ähnliche Tätigkeiten ein.
Im Film - dessen Titel der Vorname der Hauptfigur ist und gleichzeitig übersetzt "Reinheit" bedeutet - patrouillieren die Vorarbeiter mit Schusswaffen und erniedrigen ihre Opfer aufs Übelste – bis hin zu körperlicher Gewalt und sogar Mord. Diese Elemente von "Pureza" seien nicht etwa Übertreibungen, um den Film dramatischer zu machen, sagt Renato Barbieri, er habe das alles aus Opferberichten.
"Sklavenhalter-Mentalität lebt weiter"
Vom ersten Treffen des Regisseurs mit der echten Pureza bis zum fertigen Film vergingen zwölf ganze Jahre. Ist der vergleichsweise lange Zeitraum teilweise auch Finanzierungsschwierigkeiten geschuldet, so führte er auch dazu, dass Barbieri Gelegenheit hatte, sich immer weiter in das Thema zu verbeißen. "Ich habe dann irgendwann gemerkt, ich würde nur einen Bruchteil meiner Recherche in dem Spielfilm verarbeiten können. Ich hatte mit so vielen interessanten Menschen gesprochen, dass ich mich entschied, auch noch eine Dokumentation zu machen."
"Servidão" (deutsch: "Knechtschaft") heißt der letztes Jahr herausgekommene Dokumentarfilm, der einen Bogen von der Zeit der "echten" Sklaverei bis ins Hier und Jetzt schlägt und der laut Barbieri aufzeigt, "wie die Sklavenhalter-Mentalität von damals in der brasilianischen Gesellschaft fortlebt".
Die Macht der Großgrundbesitzer
Auch Julia Harnoncourt sieht diesen Zusammenhang, allerdings "ist das, was wir heute sehen, sicherlich nicht nur eine Folge der Sklaverei. Man muss sich auch fragen, inwieweit der globale Kapitalismus solche Arbeitsverhältnisse fördert. Schließlich sehen wir unfreie Arbeit auch in Ländern, in denen es früher keine Sklaven gab oder zumindest nicht in dem Maß wie in Brasilien."
Dort schrieb sich die Politik nach 1995 zeitweise den Kampf gegen sklavereiähnliche Ausbeutung auf die Fahne – vor allem unter dem linksgerichteten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Doch unter dem rechtskonservativen Michel Temer und dann unter dem rechtspopulistischen Jair Bolsonaro gab es verstärkt Versuche, das Anti-Sklaverei-Gesetz aufzuweichen und staatliche Kontrollen zu erschweren. Der Einfluss der Großgrundbesitzer auf die Politik war schon immer groß – doch nun hat sich das politische Klima noch mehr zu ihren Gunsten gewendet.
Oscar für "Pureza"?
"Wir erleben einen Rückschlag", ist auch Barbieri überzeugt. Umso wichtiger findet er es, sich "als einer der ersten Regisseure überhaupt mit Arbeitssklaverei in der Landwirtschaft in einem Spielfilm und einer Dokumentation auseinanderzusetzen. Vor allem Brasiliens Mittelschicht muss für dieses Drama sensibilisiert werden."
"Pureza" ist schon auf verschiedenen Filmfestivals gelaufen und hat mehrere Preise gewonnen, unter anderem für die beste Kameraarbeit und die beste Hauptdarstellerin (Dira Paes) beim "Brazilian Film Festival of New York". Voraussichtlich in der kommenden Woche entscheidet die Brasilianische Filmakademie, ob der Film als brasilianischer Beitrag bei den Oscars antreten darf. Auch die echte Pureza hat übrigens schon einen wichtigen Preis gewonnen: 1997 wurde sie für ihr Engagement von "Anti-Slavery International", der ältesten Menschenrechtsorganisation der Welt, mit dem Anti-Slavery Award ausgezeichnet.