Brasiliens Hausmädchen und das Virus
13. September 2020Als sie die Fotos betrachtet, kann sie einen gewissen Stolz nicht unterdrücken. Die brasilianische Hausangestellte Nilza de Jesus Almeida hat mit ihrer Chefin die Rollen getauscht. Statt zu kochen, gibt sie nun Kochunterricht per Telefon.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ihre Chefin ist zu einer begeisterten Köchin mutiert. Und sie zum Coach. Die Auberginen-Lasagne hätte sie nicht besser zubereiten können. Und beim Anblick des gebratenen Rindfleischs mit Kartoffeln läuft ihr das Wasser im Mund zusammen.
"Sie kocht Reis mit Bohnen, Soufflé, Garnelen mit Gemüse, alles!", erzählt die 70-Jährige im DW-Gespräch. "Ich habe ihr per Telefon jedes Gericht genau erklärt. In zwei Wochen hat sie alles gelernt."
Erbe der Sklaverei
Corona scheint eine in Brasilien bisher undenkbare Veränderung anzustoßen: Das Virus zwingt viele brasilianische Familien, vorübergehend auf ihre Dienstmädchen zu verzichten. Damit gerät eine Institution ins Wanken, die zur DNA der brasilianischen Gesellschaft gehört: die Hausangestellte, genannt, "empregada", die sich um Haushalt und Kinder kümmert.
Rund acht Millionen Dienstmädchen arbeiten in Brasilien als Hausangestellte, die Hälfte von ihnen ohne festen Vertrag. Der Beruf, der überwiegend von schwarzen Frauen aus armen Verhältnissen ausgeübt wird, gehört zum schweren Erbe der Sklaverei, die in Brasilien erst 1888 abgeschafft worden ist.
Es dauerte allerdings noch bis 2013, bis "empregadas" rechtlich mit anderen Angestellten gleichgestellt wurden. Trotz dieser Gleichstellung hält in der Praxis die Diskriminierung von Hausangestellten in Brasilien an.
Ein aussterbender Beruf?
Nun stellt Corona die Existenzfrage: Sind Hausangestellte unverzichtbar oder handelt es sich um einen aussterbenden Beruf? Maria Noeli dos Santos von der Gewerkschaft der Hausangestellten in Rio de Janeiro hofft, dass sich die Lage nach der Pandemie wieder normalisiert. Die 64-jährige Gewerkschafterin bessert mit ihrer Arbeit als Hausangestellte ihre Rente auf.
"Wer sich einmal an die Annehmlichkeiten gewöhnt hat, will nicht auf die Dienste einer Hausangestellten verzichten," meint sie. Hundertprozentig sicher ist sie sich allerdings nicht. Denn nicht nur viele Hausangestellte seien arbeitslos, auch deren Arbeitgeber hätten häufig ihren Job verloren und müssten sparen.
Viele Arbeitgeber hätten sich überraschenderweise im Homeoffice daran gewöhnt, selber zu kochen und zu putzen. "Wenn sie diese Gewohnheiten beibehalten, dann werden sie die empregada wohl nur noch einmal die Woche statt jeden Tag benötigen", vermutet Noeli dos Santos. "Das passiert immer häufiger."
Mahlzeit per Mouseclick
Damit nicht genug: Immer mehr Dienstleister maßen sich an, Teile der Arbeit von Hausangestellten zu übernehmen: So liefern Supermärkte Einkäufe direkt nach Hause, Mahlzeiten können per Mouseclick online bestellt werden, und Kochmuffel bekommen auf Bestellung Rezepte samt Zutaten ebenfalls frei Haus geliefert.
Auch die Hausangestellten selbst suchen seit dem Ausbruch von Corona und den im März verhängten Einschränkungen nach Alternativen. "Viele haben zuhause neue Sachen ausprobiert," sagt Gewerkschafterin Maria Noeli dos Santos. "Die einen bereiten Mahlzeiten zu und verkaufen sie auswärts, die anderen bieten Maniküre an. Wenn es klappt, machen sie weiter, wenn nicht, werden sie versuchen, wieder als empregada zu arbeiten."
Doch wie wird diese Arbeit in Zukunft aussehen? Wird die "empregada" weiterhin zu jedem brasilianischen Haushalt gehören, der es sich leisten kann? Oder schrumpft die brasilianische Institution nach Corona auf die Tätigkeit einer Tagelöhnerin zusammen?
"Angekündigte Tragödie"
Für den Arbeitssoziologen Ricardo Antunes verstärkt Corona die Ausbreitung informeller und prekärer Arbeitsverhältnisse. Der Autor des Buches "Coronavirus: Arbeit im Kreuzfeuer" hält es für symptomatisch, dass eines der ersten Todesopfer der Pandemie in Brasilien eine Hausangestellte war. Die 63-jährige Cleonice Gonçalves starb Ende März in Rio de Janeiro, nachdem sie sich bei ihrer Chefin angesteckt hatte, die das Virus aus einem Italienurlaub mit eingeschleppt hatte.
Die Chefin hatte zwar selbst schon den Verdacht gehabt, sich Corona eingefangen zu haben und sich auf das neue Virus testen lassen - doch Gonçalves sagte sie davon nichts. Als das positive Testergebnis kam, war diese bereits tot.
"Ungleichheit nimmt grausame Züge an"
Der tragische Vorfall zeigt, dass viele Brasilianerinnen aus der Mittel- und Oberschicht auch in Krisen- und Pandemiezeiten nicht auf die Annehmlichkeiten einer "empregada" verzichten wollen. Mittlerweile zahlen viele ihren Hausangestellten ein Uber-Taxi, damit sie zur Arbeit kommen, ohne sich der Infektionsgefahr im öffentlichen Nahverkehr auszusetzen.
"Außer mir gehen alle meine Kolleginnen zur Arbeit, ihre Chefin will, dass sie kommen", sagt Nilza de Jesus Almeida. "Auch wenn sie selbst oder ihre Chefin Corona haben." Gewerkschafterin Maria Noeli dos Santos stimmt zu. "Viele gehen während der Pandemie zur Arbeit und bringen sich und andere dabei selbst in Gefahr." Den ansonsten drohenden Verdienstausfall können sich viele "empregadas" nicht leisten.
In seinem Buch schreibt Ricardo Antunes von einer "angekündigten Tragödie": "Die bereits vor der Pandemie herrschende soziale Ungleichheit nimmt grausame Züge an und trifft die Schwächsten am härtesten. Die Arbeiterklasse hat keine Wahl", lautet seine brutale Prognose: "Entweder sie stirbt an Covid 19, oder sie stirbt an Hunger."