Brasiliens arme "Brüder"
20. Juni 2014Der grüne Teppich ist mit Rucksäcken bedeckt. Auf den Sitzkissen liegen erschöpfte Fans aus Chile, Argentinien und Kolumbien und schlafen. Ihre Fahnen dienen als Bettdecke. Auf einem Bildschirm flimmern die WM-Spiele. An der Wand prangt ein riesiges Foto mit lachenden brasilianischen Fans: "Wir sind eine Familie", verheißt die WM-Werbung.
Die grüne Oase befindet sich mitten im Busbahnhof von Rio de Janeiro. Zwischen 50.000 und 80.000 Passagiere werden hier täglich abgefertigt. Während der vier Wochen der WM kommen 1,5 Millionen Touristen aus dem Ausland hinzu. Doch mittlerweile hat sich unter klammen Fußballfans herumgesprochen, dass man in der Warteecke nicht nur WM-Spiele anschauen, sondern auch kostenlos übernachten kann.
Am Busbahnhof gestrandet
"Ich schlafe seit zwei Tagen hier, weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll", sagt Juan Sebastian Oviedo. "Da draußen kostet eine Übernachtung mindestens 35 bis 50 Euro, hier zahlen wir nur für die Gepäckaufbewahrung und die Benutzung der Duschen."
Der 26-jährige Kolumbianer gehört zu der großen Gruppe lateinamerikanischer WM-Fans, die für ihre Mannschaft die Anden überquert und mehrere tausend Kilometer in Bussen und Wohnmobilen zurückgelegt haben. Die "Hermanos", Brüder, wie sie von den Brasilianern genannt werden, haben das Stadtbild von Rio de Janeiro verändert. Sie feiern an der Copacabana, schlafen am Strand, übernachten in Wohnmobilen und versteckten Ecken.
Rund 500.000 Lateinamerikaner, darunter 150.000 Argentinier, kommen nach Schätzungen der Tourismusbehörde Riotur während der WM an die Copacabana. Insgesamt rechnet die brasilianische Regierung damit, dass rund drei Millionen einheimische und 600.000 ausländische Touristen zwischen den zwölf Austragungsorten im Land hin und her reisen.
"Unser Peso ist nichts wert"
Rund drei Milliarden US-Dollar soll der Fußballtourismus für Brasilien einspielen. Für Rio zieht Tourismussekretär Claudio Magnavita bereits jetzt eine positive Bilanz. "Die rund 50.000 Fans aus Argentinien, die zum Spiel ihrer Mannschaft gegen Bosnien am 15. Juni nach Rio angereist waren, haben rund 1000 US-Dollar pro Kopf während ihres Aufenthaltes ausgegeben", sagte er in einer Pressekonferenz.
Doch nicht alle Touristen bringen Dollars mit. "Es ist ein Irrtum, dass zur WM nur Touristen mit Geld kommen", stellt Kolumbianer Juan Sebastian Oviedo klar, der in Costa Rica Öktourismus und Umweltwissenschaften studiert. "Für uns Südamerikaner ist es hier in Brasilien extrem teuer. Die Preise sind doppelt so hoch wie bei uns zu Hause."
Sein Nachbar, Raúl Jiménez aus Argentinien, ist bereits pleite. Der Fußballfan hat mehrere Tage in einem Obdachlosenheim verbracht. "Die Mehrheit der Touristen sind Argentinier, sie geben alles für ihre Mannschaft und kratzen ihr letztes Geld zusammen", sagt er. "Unser Peso ist nirgendwo in Lateinamerika mehr etwas wert, weder in Paraguay, noch in Bolivien und Peru, und erst recht nicht in Brasilien", fügt er mit gekränktem Stolz hinzu.
"So etwas hat es noch nie gegeben"
Chilenische Camper-Karawanen, argentinische Wohnmobile und Rucksacktouristen aus der ganzen Welt: So hatte sich Brasilien seine WM-Besucher nicht unbedingt vorgestellt. "Wir waren darauf eingestellt, dass viele ausländische Touristen kommen, aber dass sie hier bei uns am Busbahnhof übernachten, das hat meine Vorstellungskraft eindeutig überstiegen", erklärt die Pressesprecherin des Busbahnhofs Beatriz Lima. "So etwas hat es noch nie gegeben!"
Die klammen WM-Fans scheinen mit einer stillen Unterstützung der Cariocas, wie sich die Einwohner Rios nennen, rechnen zu können. Weder Polizei noch städtische Kontrolleure haben bis jetzt die "Hermanos" vertrieben. "Der Busbahnhof hat zwar nicht die Aufgabe, für die Übernachtung seiner Passagiere zu sorgen, aber bis jetzt hatten wir durch die Gäste noch keine großen Probleme", sagt Sprecherin Lima. Die meisten Fans würden sich nur in der Nacht und im Morgengrauen im Wartebereich aufhalten, tagsüber seien sie unterwegs.
Campen an der Copacabana
Bei der städtischen Tourismusbehörde Riotur will man von dem Thema nichts wissen. "Wenn WM-Touristen am Strand übernachten, obwohl dies verboten ist, muss sich die Ordnungsbehörde darum kümmern", stellt Sprecherin Silvia Brando klar. Die "Touristen mit geringer Kaufkraft", wie die WM-Fans aus den Nachbarländern im offiziellen Sprachgebrauch genannt werden, stellten für Rio keine Herausforderung dar, ihre Zahl sei im Vergleich zu jährlichen Massenveranstaltungen wie Karneval oder Silvester "überschaubar".
Trotz dieser betont entspannten Einstellung arbeitet die Hotelbranche unter Hochdruck am Ausbau ihrer Kapazitäten. Bei der nächsten Massenveranstaltung, den Olympischen Spielen 2016, will Rio seinen Gästen mehr Übernachtungsmöglichkeiten in allen Preisklassen anbieten. Nach Angaben von Riotur soll die Anzahl der Betten von aktuell 34.130 Einheiten auf 53.271 gesteigert werden.
Der argentinische Fußballfan Raúl Jiménez wird wohl so schnell nicht wieder an die Copacabana zurückkehren. Er muss nun endgültig seine Koffer packen. "Ich fahre nach Hause und werde den Rest von dort verfolgen", sagt er. "Ich schließe mich zu Hause ein, trinke einen guten argentinischen Wein, esse Fleisch, und feiere mit Freunden."