Neues Leben für brache Böden
17. Oktober 2018Als Jonas de Souza das erste Mal einen Fuß auf das Ackerland an der brasilianischen Ostküste setzte, fand er sich inmitten einer Ödnis wieder, in einem nahezu toten Areal. Überall lagen leere Flaschen eines Pflanzenschutzmittels herum, der Boden war vollkommen ruiniert.
"In der Erde steckt normalerweise sehr viel Leben", sagt de Souza. "Aber hier war es fast unmöglich, auch nur einen einzigen lebendigen Wurm zu finden. Genauso die Flüsse, in denen gab es keine Fische mehr. Und alles wegen der Pestizide. Die haben alles verseucht."
Das war 2003. De Souza war Teil einer Gruppe von insgesamt zwanzig Familien, die den vernachlässigten Landstrich besetzen wollten. Grund für dessen schlechten Zustand war die jahrelange, einseitige Belastung durch riesige Rinderfarmen. Diese waren auch verantwortlich für den rasanten Artenverlust in dem Teil des Atlantischen Regenwaldes, der hier wächst.
Dagegen könne man etwas tun, war sich Souza sicher. Man müsste anfangen, die Böden nachhaltig zu bewirtschaften, um dem Wald neues Leben zu schenken. Dieser Ansatz scheint aufzugehen. Um das Jose Lutzenberger-Camp, wie die Siedlung der zwanzig Familien heute heißt, blüht und wächst eine Vielzahl unterschiedlicher Pflanzen. Es macht damit seinem Namen alle Ehre - Jose Lutzenberger war ein bekannter brasilianischer Umweltschützer .
Zwanzig Tonnen Nahrungsmittel ernten die Campbewohner im Monat. Ob nun Kaffee oder Kohl, alles wächst ohne den Einsatz von Pestiziden. 90 Prozent des Ertrags gehen als Teil eines kostenlosen Mittagstischs an öffentliche Schulen. Der Rest wird entweder auf dem Markt verkauft oder für die eigene Versorgung benötigt.
Landwirtschaft belebt die Natur neu
Um das Land überhaupt wieder urbar zu machen, griffen die Campbewohner auf traditionelle Anbaumethoden zurück, ganz im Einklang mit dem Ökosystem. Sie begannen beispielsweise damit, wieder Inga-Bäume zu pflanzen, die in der Region heimisch waren.
Diese schnell wachsenden Bäume mit ihren charakteristischen Schoten spenden Schatten für Kaffeepflanzen, die deshalb mit weniger Wasser auskommen. Die meisten Bäume waren von den Rinderzüchtern abgeholzt worden. An ihrer Stelle wurden Gräser als Tierfutter gesät, die normalerweise nicht im Osten Brasiliens wachsen.
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Mit der Zeit kehrten auch die Tiere zurück. Dies, sagt Souza, sei ein Zeichen dafür, dass es dem Wald gut gehe. "Hier tauchen immer mehr Arten auf, von kleinen Schweinen bis hin zu allen erdenklichen Vögeln. Inzwischen schauen auch größere Tiere vorbei, wir hatten hier auch schon Jaguare."
Inzwischen können die Menschen hier sogar wieder aus ihrem Fluss trinken. "Dieser Wald gehört heute zu den am besten erhaltenen des Landes", sagt Katya Isaguirre. Die Professorin für Umweltrecht arbeitet an der Federal University of Parana. Sie beobachtet die Region, in der sich das Lager der zwanzig Familien befindet, seit 2013.
"Hier ist es ganz anders als in der technisierten Landwirtschaft, in der es weder Menschen noch Natur gibt", so Isaguirre.
Großkonzerne oder Familienbetriebe?
Das Lutzenburger Camp ist Teil eines Konflikts, bei dem sich zwei grundsätzliche Ideen gegenüber stehen. Jede beansprucht für sich, Landwirtschaft am besten zu verstehen.
Die eine Seite sieht die Zukunft in sogenannten Latifundios. Darunter versteht man große landwirtschaftliche Betriebe, die oft multinationalen Konzernen gehören und die größtenteils Monokulturen anbauen, Soja für den Export zum Beispiel.
Auf der anderen Seite stehen die Verfechter der Landwirtschaft in Familienbetrieben. Laut dem brasilianischen Institut für Geographie und Statistikmachen diese 84,4 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe des Landes aus.
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"Es gibt einen Streit um alternative Produktionswege. Aber genauso auch darum, wie diese den Leuten vermittelt werden," sagt Nurit Rachel Bensusan, die für die brasilianische Umweltorganisation ISA arbeitet.
"Einerseits wird gesagt, dass die Agrarindustrie die Zukunft unseres Landes ist. Dabei kommen aber etwa 70 Prozent der Nahrungsmittel aus Familienbetrieben."
Bensusans Organisation war Teil einer Jury, die das Lutzenberger Camp 2017 mit dem Juliana Santilli Preis auszeichnete, einer Ehrung für nachhaltige Landwirtschaft und Naturschutz.
"Die Leute dort haben sich gegen alle Widrigkeiten zur Wehr gesetzt, ob das nun institutionelle Hürden waren, die Verletzung ihrer Rechte oder sogar körperliche Gewalt", so Bensusan.
"Bible, beef and bullets"
Jonas de Souza gehört dem Landless Workers' Movement (MST) an, der nach eigener Aussage größten sozialen Bewegung Brasiliens. Sie spricht sich seit den 1980er Jahren dafür aus, dass Kleinbauern die Latifundios besetzen.
Das geht, weil diese Großbetriebe keine "soziale Funktion" erfüllen, sagen die MST-Aktivisten. Und sie sehen sich auf Seite des Gesetzes, denn das brasilianische Recht erlaubt es Landlosen, Gebiete zu besetzen, die entweder ertraglos sind oder, wie die Großbetriebe nach Ansicht des MST, ihre "soziale Funktion" nicht erfüllen.
Den Besetzern gegenüber stehen aber Landbesitzer, große Agrarbetriebe und Politiker des sogenannten "bible, beef and bullets" Ausschusses. Der vereint im brasilianischen Kongress evangelikale Christen, die Bauernlobby und Gesetzgeber mit denen, die sich für laxere Waffengesetze einsetzen. In ihren Augen schaden die Besetzer der Wirtschaft.
Der brasilianische Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro schlug gar in einer Rede im vergangenen Jahr vor, die "Invasoren" der MST zu "töten", weil sie die Agrarindustrie behinderten. Bolsonaro hat die erste Runde der Wahlen gewonnen und gute Chancen auf den Präsidentenposten. Er wird auch als der brasilianische Donald Trump bezeichnet.
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Es ist also nicht verwunderlich, dass auch das Lutzenberger Camp in den ersten fünf Jahren nach seiner Gründung erhebliche Probleme hatte: Die Rinderzüchter, denen das Land eigentlich gehörte, wollten nichts von der Idee wissen, ihr Land sozialer und ökologischer zu nutzen. Immer wieder stand die Umweltpolizei im Camp, Bewohner wurden verhaftet. Ihre Abwesenheit nutzen Mitarbeiter der Rinderfarmer, um die Familienunterkünfte anzustecken. An regelmäßige Arbeit war kaum zu denken, einige der Familien gaben auf.
Aber allen Anfeindungen zum Trotz sei der Wille zu bleiben stärker geworden, so de Souza. "Wir wussten, dass wir kämpfen müssen, um bleiben zu können. Einen anderen Weg gab es nicht."
Ab 2008 begannen die Anstrengungen Früchte zu tragen. Das fiel auch Menschen auf, die nicht direkt etwas mit dem Camp zu tun hatten. Fischereigemeinden und Indigene fingen an, die Arbeit der Landbesetzer zu unterstützen. Je stärker diese Unterstützung wurde, desto weniger Angriffe gab es. Inzwischen wächst die Zahl der Interessenten,die Teil der Aktivistengruppe werden wollen. Vielleicht kommen bald zehn neue Familien dazu.
"Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch andere wie wir trotz aller Schwierigkeiten Fortschritte erzielen können, und gleichzeitig die Umwelt schützen", sagt de Souza. "Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere Gesellschaft verändern können, um eine neue Beziehung mit der Erde, dem Wasser und dem Wald aufzubauen."