1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Verbrechen der Militärs

Mariana Santos20. Mai 2012

Mehr als 25 Jahre nach der Militärdiktatur will Brasilien die Verbrechen aus einer Zeit aufklären, die von Verfolgung, Folter und dem Verschwinden von Regimegegnern gekennzeichnet war.

https://p.dw.com/p/14wWP
Plakate mit Steckbriefen von Guerilleros aus der Zeit der Militärdiktatur (Foto: AP)
Mit solchen Plakaten fahndeten die Militärs nach GuerillerosBild: AP

Brasilien geht seit Mitte Mai einen Schritt weiter in Richtung Vergangenheitsbewältigung, wenn sich die sogenannte Wahrheitskommission konstituiert, für die im November 2011 die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff die Weichen gestellt hat.

Hauptziel dieser Kommission ist es, die schweren Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur aufzuklären und Empfehlungen abzugeben, um ähnlichen Verbrechen in der künftig “vorzubeugen“ und deren “Wiederholung zu vermeiden“. Die damalige Guerilla-Kämpferin Dilma Rousseff erlebte den Terror der Militärdiktatur selbst mit, als sie 1970 wegen Umsturzversuchen inhaftiert und gefoltert wurde.

Die Namen der sieben von der Präsidentin bestimmten Mitglieder der Kommission wurden am 10. Mai 2012 bekannt gegeben. Die Mehrzahl der Mitglieder ist durch ihr Engagement für Menschenrechte bekannt, so auch Paulo Sérgio Pinheiro, Vorsitzender der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Syrien.

Paulo Sergio Pinheiro (Foto: AP)
Paulo Sergio PinheiroBild: AP

Das Gremium wird in den nächsten zwei Jahren so viele Informationen wie möglich sammeln. Dazu sollen Zeugen befragt und in bisher geheimen Regierungsdokumenten recherchiert werden. Die Kommission soll einen Abschlussbericht erstellen, der Fragen wie den Verbleib verschwundener Personen und die Identifizierung von Folterern beantwortet. Während des Militärregimes verschwanden mindestens 180 Personen im ganzen Land.

Drei Jahre Vorlauf

Die Einrichtung der Wahrheitskommission wurde bereits 2009 unter der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva beschlossen. Sie wurde allerdings, vor allem von Seiten des Militärs, hart kritisiert. Man argumentierte, dass die Kommission “alte Wunden aufreißen“ und so zu Spannungen und zu einer Polarisierung der brasilianischen Gesellschaft führen könnte.

Man gab dem Druck der Militärs nach und machte in den Verhandlungen im brasilianischen Nationalkongress über die Billigung der Kommission eine Reihe von Zugeständnissen. So wurde etwa im Originaltext die Formulierung “politische Unterdrückung“ gestrichen und der Untersuchungszeitraum um 18 Jahre verlängert. Und so muss sich künftig die Kommission um die Zeitspanne von 1946 bis 1985 kümmern - also auch um die Jahre vor der Militärdiktatur, die 1964 mit einem Putsch begann. Statt der Untersuchung der Verbrechen der Militärs ging es jetzt – laut endgültigem Gesetzestext – um die Förderung der “nationalen Versöhnung“.

Umstrittenes Amnestiegesetz

Die Bestrafung von Folterern wird durch das schon vorhandene "Amnestiegesetz" an ihre Grenzen stoßen. Das vom Militärregime 1979 verabschiedete Gesetz erlaubt Oppositionellen die Rückkehr nach Brasilien und in die Politik. Allerdings gewährt dieses Gesetz auch “politisch motivierten“ Straftätern, die ihre Taten in den 1960er und 1970er Jahren verübt haben, Straffreiheit, und begünstigt dadurch Regierungsmitglieder, die in Gewaltakte und die Unterdrückung Oppositioneller verwickelt waren.

Aufgrund dieses Amnestiegesetzes musste sich bis heute kein Mitglied des Militärregimes für Verbrechen, die während der Diktatur begangen wurden, rechtfertigen und möglicherweise werden auch die durch die Wahrheitskommission identifizierten Folterer einer Bestrafung entkommen.

“Ich bin sehr skeptisch, was diese Wahrheitskommission angeht. Vor allem wegen all diesen Einschränkungen. Hauptsächlich aber, weil sie Folterer nicht bestrafen kann“, kritisiert Elizabeth Silveira e Silva, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter“ aus Rio de Janeiro. Die Organisation besteht aus Angehörigen von Menschen, die in der Zeit der Militärdiktatur verschwunden oder ums Leben gekommenen sind.

Zwischen Skepsis und Hoffnung

Ivan Seixas, Mitglied einer Kommission von Familienangehörigen von Todesopfern und Verschwundenen und der Organisation zur Bewahrung der politischen Erinnerung aus São Paulo, ist dagegen optimistisch: “Weltweit tragen die Wahrheitskommissionen zur Klärung bei und weisen der Justiz den Weg zur Beurteilung und Bestrafung von Verbrechen. Eine Kommission, die zugleich bestraft, wäre eine Art außerordentliches Gericht“, meint er.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff (Foto: AP)
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff, selbst Opfer der MilitärdiktaturBild: AP

Seit der Redemokratisierung Brasiliens Ende der 1980er Jahre ist das Amnestiegesetz umstritten. Im Jahr 2008 forderte die brasilianische Anwaltskammer vor dem Obersten Bundesgerichtshof eine Revision des Gesetzes mit dem Ziel, dass Akteure, die Verbrechen wie Folter, Mord oder Entführungen begangen haben, zur Verantwortung gezogen werden und bestraft werden können.

Der Oberste Gerichtshof hingegen lehnte die Forderung der Anwaltskammer zwei Jahre später ab. Die Obersten Richter argumentierten, dass die Amnestie von Oppositionellen und Regierungsmitgliedern essentieller Bestandteil eines zügigen und friedlichen Übergangs von der Diktatur in einen demokratischen Staat sei.

Druck durch die OAS

Fachleute weisen indessen darauf hin, dass Brasilien internationale Abkommen unterzeichnet hat, in denen es zusichert, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und zu bestrafen. Wenige Monate nach der Entscheidung des obersten brasilianischen Gerichts verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den brasilianischen Staat, weil er die von der militärischen Führung angeordneten Verbrechen gegen die Guerilla von Araguaia weder untersucht noch juristisch geahndet hatte. Die oppositionelle Guerilla-Gruppe von Araguaia war damals im Amazonasgebiet zwischen dem Ende der 1960er bis zum Anfang der 1970er Jahre aktiv.

Für Ivan Seixas kommt die brasilianische Kommission spät und die Erwartungen sind hoch. Er meint, dass das durch die Präsidentin beabsichtigte ”vorwiegend juristische“ Profil der Kommission Hoffnung auf ein gesetzlich stabiles Fundament ihrer Arbeit macht.

Ex-Diktator João Batista Figueiredo (l.) mit General Octavio Medeiros, Gründer und Kommandeur des gefürchteten Geheimdienstes Brasiliens während der 21-jährigen Militärdiktatur (Foto: AP)
Ex-Diktator Figueiredo (l.) mit General Medeiros, Chef des gefürchteten Geheimdienstes während der MilitärdiktaturBild: AP

”Pakt des Schweigens”

Seixas war erst 16 Jahre alt, als er 1971 gemeinsam mit seinem Vater Joaquim Seixas inhaftiert und gefoltert wurde. Joaquim Seixas, Anführer einer revolutionären Bewegung, starb an den Folgen der Folter. Sein Sohn Ivan befand sich acht Monate in in der Gewalt der Militärs und galt bereits als ”Verschwundener“. Kurz nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, wurde er erneut verhaftet und blieb sechs Jahre in Haft. Seine Mutter und seine Schwester wurden, so erinnert er sich, ebenfalls von der Militärpolizei verhaftet.

Ivan Seixas ist überzeugt, dass bis heute ein ”Pakt des Schweigens” unter Unternehmern verschiedener Branchen, von Bau- bis zu Kommunikationsunternehmen, bestehe. Sie hätten Unterdrückungsaktionen während der Diktatur finanziert. Seiner Meinung nach ist dies eine der größten Schwierigkeiten bei der Untersuchung der Verbrechen des Militärregimes. “Die Wahrheitskommission bietet eine Möglichkeit, um diesen Pakt des Schweigens zu zerbrechen“, glaubt er.

Die Untersuchung und Bestrafung von Tätern der Militärregime in Südamerika mache keine großen Fortschritte, meint Seixas. Auch in Argentinien, erinnert er, wurde es erst vor zehn Jahren möglich, Folterern und Mördern der argentinischen Militärdiktatur (1976 - 1983) den Prozess zu machen.

Kaum Fortschritte

“Brasilien ist das rückständigste Land Lateinamerikas, wenn es um die Aufarbeitung und die Auseinandersetzung mit seiner Geschichte geht”, erklärt Menschenrechtsaktivistin Elizabeth Silveira e Silva. Sie betont, dass außer Argentinien auch schon andere südamerikanische Staaten wie Peru oder Uruguay politische Akteure zur Verantwortung gezogen haben, die unter antidemokratischen Regimen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.

Für die Vorsitzende der Organisation ”Nie mehr Folter” ist Brasilien bisher nur wenig in der Aufklärung der Verbrechen aus der Diktatur voran gekommen. Einer der wenigen Fortschritte ist ihrer Meinung nach die Verabschiedung eines Gesetzes von 1995, nach dem Personen, die nach einer Verhaftung durch Militärangehörige verschwunden sind, für tot erklärt werden können.

Erzwungene Aufarbeitung

Für Silveira ist die neue Kommission eine Antwort der brasilianischen Regierung auf die Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs und auf die Forderung der internationalen Gemeinschaft, Fortschritte bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu machen.

”In Brasilien weiß immer noch keiner, wer Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Wir hatten gehofft, dass eine linke Regierung sich dieser Situation stellen würde“, kritisiert sie die achtjährige Regierungszeit von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.

Ein Student wird 1968 während ein Protest gegen das Regime in São Paulo verhaftet (Foto: AP)
Verhaftung eines Studenten 1968 in São PauloBild: AP

Silveira verfolgt seit mehr als 30 Jahren die Diskussion um die Ahndung der Verbrechen während der Militärdiktatur. Damals verschwand ihr 22-jähriger Bruder, der Mitglied der Guerilla-Bewegung von Araguaia war. Die gewaltsame Unterdrückung von Guerilla-Kämpfern und Bauern in der Amazonas-Region durch die Militärs forderte viele Todesopfer. Viele Jahre lang durch die Zensur vertuscht, wurde der Fall erst in den 1990er Jahren bekannt.

Opfer ohne Gräber

Berichten zufolge wurde ihr Bruder 1974 ermordet, sagt sie. Der Leichnam wurde allerdings nie gefunden. ”Meine Eltern starben ohne zu wissen, was mit meinem Bruder passiert ist“, erzählt sie. Die Befürchtung der Familie ist nun, da man immer noch wenig über diese Zeit weiß, dass es die damals Beteiligten schaffen, die Fakten, die ans Licht kommen, zu verfälschen. ”Wir sind sehr beunruhigt, dass sie eine andere als die wahre Geschichte erzählen.“

Ivan Seixas rechnet vor, dass durch politische Verbrechen in der Zeit der Militärdiktatur ungefähr 380 Personen ums Leben gekommen sind und weitere 180 als vermisst eingestuft wurden. Sie wurden für tot erklärt, ihre Leichen wurden aber nie gefunden. Und allein die Guerilla-Gruppe  von Araguaia beklagt 60 Verschwundene.