Brasilianer untersuchen Londoner Todesschüsse
22. August 2005Nach widersprüchlichen Angaben der Londoner Polizei zur Erschießung des Elektrikers Jean Charles de Menezes hat Brasilien jetzt zwei hohe Beamte nach London geschickt, um sich ein Bild vom Tathergang zu machen. Wagner Goncalves, der stellvertretende brasilianische Generalstaatsanwalt, traf am Montag (22.8.2005) zusammen mit Marcio Pereira Pinot Gracia, Beamter im Justizministerium, in London ein. Sie wollen nach Angaben des brasilianischen Konsulats einige Tage in London bleiben und unter anderem Vertreter der Polizeibeschwerdekommission IPCC treffen.
Trotz massiver Kritik am Londoner Polizeichef in Zusammenhang mit der Erschießung hält die britische Regierung weiter an Polizeichef Ian Blair fest. Vizepremierminister Charles Prescott sagte am Sonntag, er vertraue Blair weiter. Ähnlich äußerte sich das Amt von Regierungschef Tony Blair. Zuvor hatte schon Innenminister Charles Clarke gesagt, er sei "sehr zufrieden" mit Ian Blair.
Fehlinformationen
Polizeichef Blair hatte nach der Tötung Menezes' zunächst angegeben, die Beamten hätten den 27-Jährigen wegen seines verdächtigen Verhaltens für einen Selbstmordattentäter gehalten. Bilder von Überwachungskameras im U-Bahnhof Stockwell und Einsatzprotokolle zeigten jedoch, dass sich der Brasilianer am 22. Juli in keiner Weise ungewöhnlich verhielt oder verdächtige Kleidung trug, bevor er von den Beamten mit elf Schüssen getötet wurde. Ian Blair selbst sagte in einem Interview, er habe erst 24 Stunden nach dem Tod von Jean Charles de Menezes von dessen Unschuld erfahren. Seine ersten Äußerungen zu dem Fall hätten also auf Unwissen beruht und nichts mit Vertuschung zu tun gehabt. Der Polizeichef steht vor allem deshalb unter Druck, weil seine Behörde noch Tage später behauptet hatte, de Menezes habe sich verdächtig verhalten. Nach Angaben der IPCC versuchte Polizeichef Blair zunächst, eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls zu verhindern.
Rücktritt gefordert
Die Familie von de Menezes ließ dazu über einen Anwalt erklären, wenn es stimme, dass Blair erst so spät über den tödlichen Irrtum aufgeklärt worden sei, frage man sich, warum er vorher so "extravagante Behauptungen" über de Menezes' angebliches Verhalten aufgestellt habe. De Menezes' Mutter forderte am Montag, die verantwortlichen Beamten müssten bestraft werden. "Sie haben nicht nur meinem Sohn das Leben genommen, sondern auch mir," sagte sie der BBC. Ein Cousin des Getöteten forderte den Rücktritt Blairs. Auch die IPCC kritisierte, Scotland Yard hätte schneller klarstellen müssen, dass sich de Menezes in keiner Weise verdächtig benommen habe. "Das haben sie nicht getan, und damit müssen sie sich jetzt auseinander setzen", sagte Jenny Jones, ein Mitglied der Aufsichtsbehörde.
Der stellvertretende Regierungschef Prescott schloss in der BBC eine Untersuchung des Vorfalls nicht aus. Zunächst müsse aber der Bericht der Beschwerdekommission abgewartet werden. Ian Blair lehnte in der Zeitung "News of the World" einen Rücktritt ab und erklärte, die Polizei müsse trotz allem weiter ihre Arbeit tun. "Wir müssen uns darauf konzentrieren, wie wir diejenigen finden, die weitere Anschläge planen". Er habe seine Mitarbeiter ermahnt, sich nicht ablenken zu lassen. "Der Job ist die Suche nach Terroristen", sagte Blair.
Polizei bot Familie Geld an
Als falsch erwies sich unterdessen der Vorwurf, die Polizei habe den Eltern von de Menezes eine Million Dollar Schweigegeld geboten. Scharfe Kritik übte Prescott am Umgang der Polizei mit der Familie von Menezes. Am Samstagabend hatte Scotland Yard bestätigt, den Angehörigen 15.000 Pfund (22.000 Euro) Entschädigung angeboten zu haben. Der Brief war laut Medienberichten allerdings in kompliziertem Juristen-Englisch verfasst, obwohl die Familie nur portugiesisch spricht. "Es wäre schrecklich, sollten sich die Berichte bestätigen", sagte Prescott. Die Familie wies das Angebot zurück. (stu)