Brandkatastrophe in Xinjiang - warum gab es so viele Tote?
2. Dezember 2022Das hoch aufragende Hochhaus war, nach allem was man hört, ein guter Ort zum Leben: Wohlhabende Geschäftsleute und ihre Familien wohnten in dem Gebäude, das günstig im Zentrum von Ürümqi lag, nicht weit vom Großen Basar der Stadt.
Ein uigurischer Mann erzählte der DW, wie stolz sein Onkel und seine Tante darauf waren, in der teuren, geräumigen Wohnung im 19. Stock zu wohnen und wieviel Geld sie dafür ausgegeben hatten, die großen Räume einzurichten. Die Familie war aus der Provinz Hotan nach Ürümqi gezogen, in die Hauptstadt der Provinz Xinjiang, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.
Doch die Dinge entwickelten sich nicht wie geplant. Es begann damit, dass der Onkel im Zuge des repressiven Vorgehens der Regierung gegen die Uiguren aufgegriffen wurde. Wie andere Bewohner des Hauses verschwand auch er in einem der umstrittenen Gefangenenlager, die in ganz Xinjiang errichtet wurden, um Uiguren "umzuerziehen".
Doch damit endete das Unglück der Familie noch nicht. Am Abend des 24. Novembers brach im 15. Stock des Gebäudes ein Feuer aus, das sich schnell nach oben ausbreitete. Offiziell starben bei dem Brand mindestens zehn Menschen, neun weitere wurden durch das Einatmen giftiger Dämpfe verletzt. Aktivisten stellen diese Zahlen jedoch in Frage. Sie behaupten, bei dem Brand seien sehr viel mehr Menschen ums Leben gekommen.
Der Faktor Zeit
In China werden die Medien, das Internet und die gesamte Kommunikation landesweit nahezu lückenlos von der Regierung überwacht. Es ist also schwierig, zuverlässige Informationen aus China zu erhalten. Das trifft insbesondere auf Informationen über Xinjiang zu. Das Rechercheteam der Deutschen Welle sprach mit mehreren Personen, die das Gebäude gut kennen: mit Wohnungseigentümern, Angehörigen von Verstorbenen und Verletzten sowie mit Brandschutzexperten. Außerdem sichtete das Team umfangreiches Videomaterial vom Brand, um herauszufinden, was in jener schicksalshaften Nacht geschah.
Mehrere von der DW überprüfte Videos zeigen deutlich, dass die Feuerwehr Schwierigkeiten hatte, in die Nähe des Gebäudes zu gelangen. Verschiedentlich sind Feuerwehrleute zu sehen, die mit Feuerwehrschläuchen versuchen den Brand zu löschen, doch der Wasserstrahl verfehlt sein Ziel. Andere Videos zeigen Feuerwehrleute, die versuchen, Absperrbarrieren von der Straße zu entfernen, um näher an das Gebäude heranzukommen.
"Zeit ist der entscheidende Faktor", betont Sean DeCrane, Leiter der Abteilung für sicherheitstechnische Dienste bei der International Association of Fire Fighters gegenüber der DW. "Brennende Kunststoffe und Kunstfasern in unseren Wohnräumen erzeugen neben anderen tödlichen Gasen zum Beispiel Blausäure und Kohlenmonoxid. Diese Gase setzen die Bewohner viel schneller außer Gefecht, als es das Feuer tut."
Todesursachen
Als der Brand ausbrach, befand sich Ürümqi bereits seit mehr als 100 Tagen im Lockdown. In der Folge wurden die sozialen Medien in China mit Schock- und Trauerbotschaften überschwemmt. Sie legten nahe, dass die rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung von Corona-Ausbrüchen zu den Todesfällen beigetragen hätten. Doch war das tatsächlich der Fall?
Viele Bewohner des Hochhauses konnten nicht schnell genug fliehen, berichteten uns Quellen, die mit dem Gebäude vertraut waren - denn Personen, die sich offiziell in Quarantäne befanden, konnten ihre Wohnungen nicht verlassen. Bilder, die in den chinesischen sozialen Medien kursieren, zeigen mit Vorhängeschlössern versperrte Zugänge zu Treppenhäusern, die als Fluchtwege gekennzeichnet waren. Die DW konnte diese Bilder nicht überprüfen, laut Quellen wurden solche Maßnahmen jedoch von den Behörden eingesetzt.
Ein Mann, der anonym bleiben möchte, um seine Familie in der Heimat nicht zu gefährden, erzählte der DW, dass die Wohnung verriegelt wurde, sobald ein Mitglied des Haushalts positiv getestet wurde. Damit waren praktisch alle Familienmitglieder in der Wohnung eingeschlossen. Personen, die negativ getestet wurden, wurden nicht eingeschlossen, an den Wohnungstüren wurden jedoch Geräte installiert, die die Behörden darüber informierten, wenn ein Bewohner versuchte, die Wohnung zu verlassen.
Doch anstatt anzuerkennen, dass solche Maßnahmen die Rettungsbemühungen behindert haben könnten, schoben die Behörden die Verantwortung für die Todesfälle den Opfern selbst zu. So sagte Li Wensheng, Leiter der Feuerwehr von Ürümqi: "Einige der Bewohner waren zu schwach, um sich selbst zu retten."
Kaum Informationen
Am Morgen nach dem Brand erhielt Abdulhafiz Maimaitimin in der fernen Schweiz einen seltenen Anruf von einem Freund. Uiguren, die außerhalb von Xinjiang leben, wissen nur zu gut, dass schon ein Anruf oder eine Nachricht aus dem Ausland in der Heimat zu einer Verhaftung führen kann.
Sein Freund, so berichtet er der DW, überbrachte ihm die traurige Nachricht, dass seine Tante und ihre vier Kinder alle den Flammen zum Opfer gefallen waren. Das jüngste Kind, Nehdiye, war nur fünf Jahre alt. "Ich konnte es nicht glauben", sagt Maimaitimin. "Meine Welt wurde auf den Kopf gestellt."
Tagelang konnte er weder trinken noch schlafen und litt an Schwindelgefühlen. "Sie ist tot wegen Chinas Null-COVID-Politik" ist er sich sicher. Maimaitimin erzählt, er habe von jemandem zu Hause die Bestätigung erhalten, dass die Wohnungstüren tatsächlich verschlossen gewesen seien. Doch aus Angst, seine Quelle zu gefährden, will er nicht mehr erzählen.
Zwei weitere Quellen gaben gegenüber der Deutschen Welle an, dass die Feuertreppe in mindestens einem der Wohnblöcke des Gebäudes mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Die Bewohner hätten den Gebäudeblock also nur über zwei kleine Fahrstühle verlassen können. Beide Quellen bestätigten jedoch unabhängig voneinander, dass der Strom nach kurzer Zeit von Gemeindearbeitern abgestellt wurde. Für die eingeschlossenen Bewohner waren damit alle Fluchtwege versperrt.
Nachfragen unerwünscht
Es ist nicht bekannt, wie lange die Behörden brauchten, um alle Bewohner aus dem Gebäude zu evakuieren und ob das Gebäude vollständig geräumt wurde, während die Feuerwehrleute versuchten, das Feuer einzudämmen. Wir wissen jedoch, dass es fast drei Stunden dauerte, bis der Brand gelöscht wurde.
Geldbußen oder gar die Verhaftung drohen jenen, die offizielle Darstellungen in den sozialen Medien in Frage stellen. Die Polizeibehörde von Ürümqi gab die Verhaftung einer Vierundzwanzigjährigen bekannt, die "falsche Informationen" über die Zahl der Todesopfer verbreitet habe, und forderte dazu auf, "Online-Gerüchten" zu widerstehen und "gemeinsam die Ordnung bei der Epidemieprävention und -bekämpfung aufrechtzuerhalten".
Für Uiguren im Ausland, die häufig seit Jahren nichts mehr von ihren Angehörigen gehört haben, bot der Brand eine kurze Gelegenheit, mit Familienangehörigen in der Heimat Xinjiang Kontakt aufzunehmen. Doch so schnell sich dieses Fenster auch geöffnet hatte, so schnell schloss es sich wieder. Der Kontakt brach ab, weil die Bewohner des verkohlten Wohnblocks im Zuge der chinesischen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus an andere Orte gebracht wurden.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.