Bosnien: Ende des völkischen Prinzips?
17. Juli 2022Die Drohungen sind unmissverständlich: Milorad Dodik, der serbische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, arbeitet unbeirrt an einer Loslösung der Republika Srpska aus dem Staatsverband Bosnien und Herzegowinas. Eifrig wird bereits staatliches Eigentum auf die Ebene der serbisch dominierten Entität des Landes übertragen. Das vergangene Jahrhundert, erklärte Dodik jüngst, sei das Jahrhundert des Leidens des serbischen Volkes, in diesem Jahrhundert folge nun die "Vereinigung" mit dem Brudervolk in Serbien.
"Srpski Svet", so lautet das Konzept, die "serbische Welt" - ein Euphemismus für jene zerstörerische Ideologie, mit deren Hilfe der ehemalige serbische Staatschef Slobodan Milosevic bereits in den 1990er Jahren Verbrechen an Nicht-Serben begehen ließ. Die Gewaltexzesse gipfelten schließlich im Völkermord von Srebrenica, der sich dieser Tage zum 27. Mal jährt. Mehr als 8300 muslimische Jungen und Männer wurden im Juli 1995 umgebracht.
Die aktuellen Angriffe gegen den bosnischen Staat haben zudem eine zweite Flanke. Dragan Covic, der Chef der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft Bosnien und Herzegowinas (HDZ BiH), der Partei der bosnischen Kroaten, fordert eine "territoriale Neugestaltung" des Landes. Bosnien und Herzegowina besteht seit Kriegsende aus der Föderation von Bosniaken und Kroaten sowie der Republika Srpska und dem Distrikt Brcko. In der Föderation seien die Kroaten unterrepräsentiert, lautet das Narrativ der HDZ BiH. Ihr strategisches Ziel ist die Schaffung einer dritten, kroatisch dominierten Entität - eine weitere ethnische Aufteilung, die das multiethnische Land dauerhaft funktionsunfähig machen würde.
Schon seit längerem kooperieren HDZ BiH und Dodiks rechtsnationalistische Partei der unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) miteinander, um die Zerstückelung Bosniens immer radikaler voranzutreiben. Sogar bei der Leugnung des Völkermordes von Srebrenica arbeiten die kroatischen und serbischen Extremisten eng zusammen.
Innere und äußere Feinde
Von außen werden die nationalistischen Agenden von Serbien und Kroatien befeuert. Die Konstellation erinnert dabei an den toxischen Zangengriff der 1990er Jahre, als beide Länder militärisch zu Felde zogen, um Bosnien aufzuteilen.
Das offizielle Zagreb beispielsweise betreibe de facto die Politik des ehemaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, kritisiert der Sarajevoer Regisseur Dino Mustafic, Mitbegründer der multiethnischen Bürgerpartei Nasa Stranka (NS). Tudjman hatte während des Bosnien-Krieges die Etablierung des kroatisch dominierten Teilstaates Herceg-Bosna vorangetrieben. Dabei kam es zu zahlreichen Kriegsverbrechen wie ethnischen Säuberungen; viele der Verantwortlichen dafür wurden vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verurteilt. Dennoch sei der "Appetit" der Nationalisten in Zagreb und Belgrad auf bosnische Gebiete nach wie vor existent, warnt Mustafic.
Brüssel fällt auf extremistische Narrative herein
Die Einmischungen in innerbosnische Belange werden auch über Brüssel gespielt: Gezielt nutzt das EU-Mitglied Kroatien EU-Institutionen, um gegen demokratische Reformen in Bosnien Front zu machen und Sonderrechte für die kroatische Bevölkerungsgruppe einzufordern. In Wahrheit soll aber die Macht der HDZ BiH abgesichert werden.
Kroatien kann sich dabei vor allem auf den EU-Erweiterungskommissar Oliver Varhelyi verlassen. Er ist ein enger Vertrauter des ungarischen Premiers Viktor Orban, der wiederum den Sezessionisten Milorad Dodik offen unterstützt, nicht nur politisch, sondern auch mit Finanzspritzen an die Republika Srpska. Auch andere EU-Unterhändler hatten in den vergangenen Monaten in intransparenten Verhandlungen immer wieder signalisiert, der HDZ BiH entgegenzukommen und eine weitere Vertiefung der ethnisierten Wahlstrukturen durchzusetzen.
Beendigung des Ethno-Nationalismus
Reformorientierte Kräfte in der Region fordern angesichts der zunehmenden Spannungen schon seit langem, den destabilisierenden Einfluss der Nachbarstaaten zu beenden. Mit dem umfassendsten Vorschlag wartet derzeit die ehemalige kroatische Außenministerin Vesna Pusic auf: In einem Konzeptpapier, das sie auf der Konferenz "Quo vadis, Balkan" Ende Mai in Zagreb vorstellte, empfiehlt sie die Neuauflage des "Baltischen Modells".
Demnach sollten Dänemark, Schweden und Finnland sowie Portugal, die Niederlande und Irland bilaterale Partnerschaften mit den sechs Westbalkanstaaten eingehen, um demokratische Reformen zu begleiten. Der Hintergrund: In den 1990er Jahren begleiteten die europäischen Nordstaaten den EU-Integrationsweg von Litauen, Lettland und Estland. Dieses Modell könne nun auf die Westbalkan-Region angewendet werden, so Pusic.
Bürgerstaat
Die Länder der Region sind nach Ansicht vieler Beobachter in der Region keine neutralen Partner, da die Gefahr bestehe, dass sie vor allem in Bosnien ihre eigenen Agenden verfolgen. Pusic regt daher eine Kooperation der nordischen Länder auch mit dem Hohen Repräsentanten in Bosnien an, dem Vertreter der internationalen Gemeinschaft im Land, der seit Kriegsende über weitreichende exekutive Befugnisse verfügt. Auf diese Weise könnten bosnische Institutionen vom Ethno-Nationalismus befreit und eine EU-Mitgliedschaft vorbereitet werden. Bosnien müsse sich zum Bürgerstaat entwickeln, fordert die Außenpolitikerin: "Moderne Demokratien kennen kein anderes Modell."
Ausgerechnet Kroatien will dieses Bürgermodell für Bosnien verhindern, wie kroatische Regierungsmitglieder immer wieder öffentlich betonen. In Brüssel scheint man solche Aussagen wohlweislich zu überhören. Vor allem EU-Kommissar Varhelyi stützt mit immer neuen Verhandlungsrunden die drei Ethno-Kartelle. Neben der SNSD (Serben) und der HDZ BiH (Kroaten) zählt auch die Partei der Demokratischen Aktion (SDA) der Volksgruppe der Bosniaken dazu. Vor wenigen Tagen lud Varhelyi Vertreter aller drei Parteien neuerlich nach Brüssel ein.
Wahlkampfhilfe für korrupte Ethno-Kartelle?
Dass die EU-Kommission den drei in zahlreiche Korruptionsaffären verstrickten Macht-Blöcken vor den im Oktober anstehenden bosnischen Wahlen eine derartige Plattform bietet, hält der bosnische Aktivist und Analyst Samir Beharic für gefährlich. Da Varhelyi ein enger Vertrauter Orbans und der ungarische Premier für seine Putin-Nähe bekannt sei, so Beharic, komme so auch der Einfluss des Kremls in Bosnien zum Tragen. Diese prorussische Politik der Stärkung der Ethno-Nationalisten müsse EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus sicherheitspolitischen Erwägungen daher umgehend unterbinden, fordert Beharic.
Auch im Deutschen Bundestag regt sich Widerstand: Hier will man den ethno-nationalen Status quo Bosniens nicht weiter akzeptieren. Eine Resolution, die die Ampelkoalition eingebracht hatte und die vergangene Woche auch mit den Stimmen der Union verabschiedet wurde, benennt Dragan Covic und Milorad Dodik als Zerstörer Bosniens. Zudem werden Kroatien und Serbien aufgefordert, ihre nationalistischen Einflussnahmen zu minimieren. Adis Ahmetovic, ein sozialdemokratischer Abgeordneter, dessen Eltern in den Kriegswirren nach Deutschland flüchteten, konstatiert: Das ethnische Prinzip habe nicht funktioniert, jetzt müsse sich das "europäische Prinzip" durchsetzen.
Einzig in der EU-Kommission scheint man diese Lehren nicht ziehen zu wollen. Warum, fragt der in Sarajevo lehrende Politikwissenschaftler Senadin Lavic, seien Brüsseler Bürokraten weiterhin offen dafür, Bosnien als ethno-nationalistische "dreiteilige Stammes-Allianz" zu erhalten? Es sei doch offensichtlich, dass diese Politik nicht im Interesse der Bürger sei.
Marion Kraske ist Politikwissenschaftlerin, Balkan-Expertin und leitete von 2015 bis 2021 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo. Sie lebt als freie Publizistin in Hamburg.