Bosnien: Bürger gegen Diskriminierung
2. März 2022Azra Zornic ist der Inbegriff einer Dame, modisch-elegant, die Frisur akkurat gelegt, das Auftreten von vornehmer Zurückhaltung. Nur wenn sie über die politische Lage in ihrer Heimat Bosnien und Herzegowina spricht, gibt die 65-Jährige ihre Zurückhaltung auf. Die Lage sei so schlimm wie seit 30 Jahren nicht, sagt die Rentnerin bitter. Die Existenz des multiethnischen Landes sei in Gefahr - und mit ihr der fragile Frieden.
Regelmäßig organisiert Azra Zornic derzeit mit Mitstreitern Proteste in der Hauptstadt Sarajevo, vor den Vertretungen der ausländischen Diplomaten, auch vor dem der EU. Azra will nicht hinnehmen, dass den zündelnden Nationalisten nicht endlich das Handwerk gelegt wird. "Warum verteidigt Europa hier nicht seine eigenen Werte?", fragt sie in einem Gespräch mit der Deutschen Welle.
Azras Wut richtet sich jedoch auch gegen jene Akteure, die dem bosnischen Staat den Kampf angesagt haben, allen voran der serbische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, Milorad Dodik. Seit Monaten treibt Dodik die Sezession der Republika Srpska, der serbisch dominierten "Entität" in Bosnien, voran.
Dies geschieht mit ausdrücklicher Rückendeckung Serbiens. Immer aggressiver propagiert das Regime von Aleksandar Vucic in Belgrad eine Wiedervereinigung der "serbischen Welt" - es ist eine Fortführung der großserbischen Ideologie des einstigen Machthabers Slobodan Milosevic, die in den 90er Jahren in die Balkankriege mündete.
Hand in Hand: Serbische und kroatische Nationalisten gegen den bosnischen Staat
Hand in Hand arbeitet Dodik mit dem Vertreter der extremistischen Kroatenpartei HDZ, Dragan Covic, zusammen. Brachial untergräbt das Tandem die Funktionalität der gesamtstaatlichen Institutionen. Covic will eine eigene, dritte, kroatisch dominierte Entität in Bosnien schaffen. Unterstützt wird er dabei von der politischen Führung im Nachbarland Kroatien, das im Krieg in Bosnien eigene territoriale Ansprüche mit Waffengewalt geltend machte.
Um ihre Machtbasis auszubauen, drohten die bosnischen Kroaten jüngst gar mit dem Wiederaufleben des verbrecherischen Parastaates Herceg-Bosna aus der Zeit des Bosnienkrieges 1992-95. Dieses "gemeinsame kriminelle Unternehmen", so das Internationale UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, war der Versuch, Teile Bosniens an Kroatien anzuschließen. Massenvertreibungen, Morde, Vergewaltigungen an Nicht-Kroaten waren an der Tagesordnung.
Keine Gleichberechtigung für alle BürgerInnen
Azra Zornic ist überzeugt, dass die Internationale Gemeinschaft mit ihrem Appeasementkurs gegenüber den kroatischen und serbischen Zündlern eine Hauptschuld an den derzeitigen Radikalisierungen trägt. Mit ihrem Engagement hat die Pensionärin schon jetzt Rechts-Geschichte geschrieben: Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagte sie gegen den Staat Bosnien. Sie wollte nicht hinnehmen, dass man sich in eine ethnische Kategorie einordnen muss, um für bestimmte Staatsposten kandidieren zu können. Und so zog sie als "Bürgerin" vor Gericht - und gewann.
Auch andere Bosnier riefen den Gerichtshof an, um gegen die Diskriminierungen vorzugehen. Der bekannteste Fall ist zweifelsfrei der von Jakob Finci und Dervo Sejdic. Finci, der langjährige Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde, wurde 1943 in einem italo-faschistischen KZ auf der kroatischen Insel Rab geboren. In Straßburg klagte er 2009 zusammen mit seinem Freund, Dervo Sejdic, einem Rom.
Straßburg-Urteile wurden nicht umgesetzt
Sowohl Juden als auch Roma dürfen nicht für das dreiköpfige Präsidialamt kandidieren. Dieses besteht aus einem kroatischen, einem serbischen und einem bosniakischen Vertreter. Laut dem Daytoner Friedensabkommen von 1995, das den Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, sind diese Posten ausschließlich den drei "konstitutiven Völkern" vorbehalten. Diese Regelung aber widerspreche der europäischen Menschenrechtskonvention, urteilten die Straßburger Richter.
In einem offenen Brief forderte Dervo Sejdic vor einigen Monaten den Hohen Repräsentanten für Bosnien, den Deutschen Christian Schmidt, auf, die Gruppe der Diskriminierten, der "Anderen", nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Hohe Repräsentante soll den Frieden im Auftrag der Internationalen Gemeinschaft sichern. Doch die verschleppt das Ansinnen der Kläger seit Jahren: Keines der Straßburger Urteile zu Bosniens Unrechtssystem wurde bislang umgesetzt.
Dayton-Verfassung schreibt Diskriminierung fest
Dabei sind von den Diskriminierungen rund 300.000 Bosnier betroffen – mehr als zehn Prozent der Bevölkerung – vor allem jene, die als Minderheiten in ethnischen Mehrheitsgebieten wohnen: Ilijaz Pilav, ein Chirurg aus Srebrenica, darf sich aufgrund seines Wohnortes in der Republika Srpska nicht für den bosniakischen Posten im Präsidium aufstellen lassen. Und auch Samir Slaku aus Sarajevo bleibt eine Kandidatur verwehrt- aufgrund seiner albanischen Wurzeln; beide gewannen ebenfalls in Straßburg. Der vorerst letzte Fall dieser Art, der 2020 vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde, ist jener von Svetozar Pudaric, ein bosnischer Serbe, dem eine Kandidatur als Präsident mit Wohnsitz in der kroatisch-muslimischen Föderation ebenfalls nicht gestattet ist.
Unterstützung bekommen die Kläger vom Verfassungsexperten Nedim Ademovic. Er hält die Dayton-Verfassung, die die Diskriminierungen festschreibt, für zutiefst undemokratisch. 1995 wollte die Internationale Gemeinschaft zuallererst die Kriegshandlungen beenden, erklärt der Jurist. "Man vergaß dabei, an die Funktionalität des Staates zu denken. Die Bürger wurden schlichtweg abgeschafft."
Die zweifelhafte Rolle der EU
Er sei enttäuscht, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Sarajevo, Jakob Finci im Gespräch mit der Deutschen Welle. Mehr als 12 Jahre wartet er schon darauf, dass er zu seinem Recht kommt: "Alle Bürger müssen die gleichen Rechte haben." Doch die kroatischen, serbischen und muslimischen Nationalisten, HDZ, SNSD und SDA, die das Land wie Feudalherren unter sich aufgeteilt haben und eine ausbeuterische Vetternwirtschaft betreiben, zeigen keinerlei Interesse daran, die diskriminierten Gruppen via Verfassungsreform gleichzustellen.
Daher sei wie kein anderer die EU gefragt, finden Zornic und Finci. Bislang jedoch betreibt die Union ein eher zweifelhaftes Spiel: Statt die Umsetzung der Straßburger Richtersprüche rigoros einzufordern, wollten EU-Emissäre zuletzt den großen Ethno-Blöcken noch mehr Machtbefugnisse einräumen. Vor allem der koratischen Partei HDZ will man Zugeständnisse beim Wahlrecht machen, die die ohnehin überrepräsentierten Kroaten noch besserstellen würden. Dadurch aber würde die ethnische Teilung weiter vertieft, der multiethnische Charakter Bosniens würde endgültig zerstört. Und damit, warnt Azra Zornic, würde die EU ihre Glaubwürdigkeit auf dem Balkan endgültig verspielen. Und Jakob Finci fügt hinzu: "Ich wünsche mir eine stärkere Rolle Deutschlands. Wenn das Zuckerbrot nicht funktioniert, muss man mit härteren Bandagen agieren." Menschenrechte seien nicht verhandelbar.