Boris Johnson in Brüssel: Auffällig unsichtbar
20. Juli 2019Viele sagen, es gibt zwei Boris Johnsons: den unbeholfenen Normalo, geliebt von seinen Fans in Großbritannien, und den übellaunigen Lügner, getrieben von Ambitionen. Während meiner Zeit in Brüssel ist keiner von beiden allzu oft bei den täglichen Pressekonferenzen in der Europäische Kommission aufgetaucht. Die Feinheiten der EU-Politik interessierten ihn nicht. Und er wollte unter dem Radar seines Chefs vom "Daily Telegraph", Max Hastings, bleiben. Er behauptete, der Pager-Dienst der belgischen Belgacom würde nicht funktionieren, was nicht stimmte - zu meinem Leidwesen: Meine Auftraggeber konnten mich immer erreichen, egal, was ich gerade tat.
Vielleicht blieb er den täglichen Pressekonferenzen, zu denen fast die gesamte Brüsseler Presse zusammenkam, nur deswegen fern, weil viele EU-Kommissare einfach nicht mit ihm sprechen wollten. Sie sahen ihn als eine Quelle von negativen und oftmals sogar erfundenen Geschichten, als jemanden, der sie im seltenen Fall eines Interviews falsch zitieren könnte. Er war nicht der erste und nicht der einzige, der solche "Euromythen" verbreitete. Brüsseler Korrespondenten haben ihren Chefs zu Hause eifrig euroskeptische Geschichten angeboten - ob diese nun wahr waren oder nicht.
Boris Johnsons "Turm zu Babel"
Als John Major britischer Premierminister war, baute das Außenministerium eine sogenannte "Boris Unit" auf, um seinen besonders seltsamen Behauptungen etwas entgegenzusetzen. Dazu gehörte, dass Fischer von der EU-Kommission gezwungen würden, ab sofort Haarnetze zu tragen, oder dass die Kommission plane, für die EU-Behörden einen drei Kilometer hohen "Turm zu Babel" zu bauen. Ich habe gehört, einige britische Konservative glauben immer noch an diese Geschichte, obwohl sie natürlich nie stimmte. Der Pressesprecher einer politischen Partei im Europaparlament sagte damals, dass er Boris Johnson nur selten sah. Die Gesetzgebung im Parlament war ihm zu langsam, also hat er sie ignoriert.
Seine Brüsseler Journalistenkollegen kannten Boris als knauserig: Er nahm bereitwillig einen Drink an, wollte aber selten eine Runde ausgeben. Er sprach nie darüber, woran er arbeitete, und schloss sein Büro ab - obwohl er es eigentlich mit anderen teilte. Zu seinem Job gehörten auch belgische und andere europäische Themen, aber er ließ sich davon nicht stören, sondern zog es vor, Kollegen mit besseren Kontakten nach Informationen zu fragen - um dann eine übertriebene Version des Gehörten aufzuschreiben und die Kollegen als "EU-Quellen" zu zitieren.
Einmal erwähnte ich vor ihm in der Brüsseler Kneipe "The Old Hack", dass ein neuer freiberuflicher Korrespondent mich gefragt hatte, welche Geschichten ich an dem Tag verfolge und dann regionalen Fernsehsendern diese Themen anbieten wollte, bevor ich überhaupt die Fakten überprüfen konnte. Boris schlug vor, er könne ihn anrufen und behaupten, er sei von ITN-TV in London und ihn auf eine vergebliche Mission nach Moskau schicken. Nach einem teuren Flug, den der Kollege selber bezahlt hätte, wäre er dann in der russischen Hauptstadt gestrandet. Natürlich war ich verärgert über den Neuling - aber so etwas hätte ich ihm nicht antun können.
Zwei unterschiedliche Welten
In einem viel ernsteren Fall half Boris einem alten Schulfreund, Darius Guppy (Anm. d. Red.: ein britisch-iranischer Geschäftsmann, der in einen Versicherungsbetrug verwickelt war). Er gab ihm die Adresse des Journalisten Stuart Collier von "News of the World", der über Guppys Geschäfte recherchiert hatte - obwohl er wusste, dass Guppy plante, Collier verprügeln zu lassen. Guppy hatte ihm versichert, es werde nicht mehr sein als "zwei blaue Augen und eine gebrochene Rippe". Zur Schlägerei kam es nie, aber Collier wartet bis heute auf eine Entschuldigung. Guppy kam später ins Gefängnis wegen Betrugs, während Johnson mit einer Standpauke von Hastings davonkam.
Boris konnte auch liebenswürdig sein. Als ein befreundeter Journalist sich für ein Buch interessierte, das er gerade las, schenkte Boris es ihm einfach. Einmal steckte er einem Praktikanten fünf britische Pfund zu und sagte ihm, er solle sich ein Sandwich und einen Kaffee kaufen. Außerdem liebte er sportliche Aktivitäten mit Kollegen. Doch er hatte auch ein hitziges Temperament. Seine irrationalen Ausraster sollten seinen britischen Fans zu denken geben: Ist es wirklich weise, ihm die Kontrolle über Nuklear-Codes anzuvertrauen?
Boris und ich lebten nahe beieinander - und trotzdem in zwei unterschiedlichen Welten. Er hatte die Eliteschule Eton besucht, ich eine lokale öffentliche Schule im Nordosten von Jarrow. Ich mietete in Brüssel ein Einzimmer-Appartement, während ihm ein vierstöckiges Herrenhaus gehörte, das direkt um die Ecke lag. Boris mied Anrufe vom "Daily Telegraph" und erfand an den Haaren herbeigezogene Geschichten von einem europäischen Überstaat, der versucht, den ehrlichen britischen Arbeiter zu unterwerfen.
Eine Schneise der Verwüstung
Die Menschen, die ihm nahe standen, hatten schon länger das Gefühl, er sei vom Journalismus in die Politik gewechselt. Wenn er Premier wird, könnte er plötzlich feststellen: In der Downing Street funktioniert das Untertauchen und das Erfinden von Dingen nicht so gut wie im Brüsseler Büro des "Daily Telegraph".
Boris hinterlässt eine Schneise der Verwüstung, zum Teil auch bei einigen Frauen aus seinem komplizierten Liebesleben. Ein ehemaliger Kollege beschrieb ihn als Kampagnen-Genie, das in Wirklichkeit gar nicht an den Brexit glaubt.
Bei seinem letzten Besuch im EU-Parlament in Brüssel als Bürgermeister von London überquerte er eine Glasbrücke zwischen zwei Gebäuden und begegnete seiner Schwägerin, der BBC-Korrespondentin Shireen Wheeler, die gerade ein Fernsehinterview führte. "Guten Morgen, Shireen", dröhnte er heiter und unterbrach sie bei der Arbeit. Shireen drehte sich sofort um und blickte aus dem Fenster. "Ich musste nur nachschauen, ob es wirklich ein guter Morgen ist", antwortete sie, "denn du bist so ein Lügner, Boris."
Seine Lügen überzeugten viele davon, dass die EU schlecht für Großbritannien sei - und ebneten ihm den Weg in die Downing Street. Sie könnten ihn aber auch wieder von dort wegführen, falls er im Amt weiterhin lügt.
Jim Gibbons hatte das Vergnügen, in seiner Zeit als DW-Moderator des englischsprachigen Europamagazins Boris Johnson in Brüssel kennenzulernen.