Bonn zeigt große Marina Abramović-Werkschau
19. April 2018Gleich am Anfang blinkt und flackert es. Projektoren werfen Videos an die Wand, die eine vielgesichtige Porträtgalerie formen. Alle zeigen das Antlitz der Künstlerin - ein Rückgriff auf Abramovićs mittlerweile berühmte Langzeitperformance "The Artist is Present" von 2010, als die Künstlerin sich im New Yorker MoMA auf einen Stuhl setzte und nichts anderes tat, als denen in die Augen zu schauen, die ihr gegenüber Platz nahmen. 90 Tage lang! Ein anderes Video zeigt Marina Abramović, wie sie vor der Kamera eine große Gemüsezwiebel verspeist, ohne eine Miene zu verziehen. An der Museumswand hängen Fotos ihrer Performance "Rhythm 10" von 1973, als sie mit einem scharfen Messer zwischen die gespreizten Finger ihrer Hand hackte. "Tack! Tack! Tack!", tönt es aus dem Lautsprecher in der Museumsdecke. Beim Zuschauen wird einem angst und bange.
Entschieden radikal, aber doch sehr sinnlich wirkt vieles, was die 72-Jährige im Laufe ihres Künstlerlebens inszeniert hat. Auch die Person Abramović, geboren 1946 in Belgrad, die an den Kunstakademien in Belgrad und Zagreb studierte und heute in New York lebt, strahlt das aus: wie sie mit weicher, warmer Stimme spricht. Wie sie blöden Fragen mit Desinteresse pariert. Wie sie während der Pressekonferenz zur Bonner Ausstellung den Blick auf ihre sittsam gefalteten Hände senkt, fast schon meditativ. Ihr eilt der Ruf voraus, mit ihrer Kunst immer wieder die eigenen physischen und psychischen Grenzen auszuloten. "Ihr Werk ist so bedeutend", sagt Museumschef Rein Wolfs, "dass eine große Retrospektive längst fällig war." Dank der Museen in Stockholm und Kopenhagen kann er sie jetzt auch am Rhein eröffnen. Mitkuratiert hat hier Susanne Kleine.
Re-Performances im Mittelpunkt
Die Retrospektive zeigt bis zum 12. August Werke aus 50 Schaffensjahren. Die Schau spiegelt die wichtigsten Facetten ihres Œuvres - von den frühen Malereien der Belgrader Kunststudentin über die Früchte ihrer zwölf Jahre währenden Partnerschaft und künstlerischen Zusammenarbeit mit dem deutschen Künstler Ulay alias Frank Uwe Laysiepen, mit dem sie Aufsehen erregende Performances machte, bis hinein in die Gegenwart.
Filme, Fotografien, Malerei, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen zeigen die mediale Bandbreite der Künstlerin. Was besonders beeindruckt, sind die aufwendig dokumentierten Perfomances früherer Tage. Ihre wichtigsten sind noch einmal im Laufe der Ausstellung zu sehen. Diese "Re-Performances" sind die Höhepunkte der Schau.
Eine solche ist "Imponderabilia", eine Arbeit von 1977. Bei der Performance in der Galleria Comunale d'Arte Moderna in Bologna stellten sich Abramovic und ihr Partner Ulay völlig unbekleidet in den Museumseingang. Wer hinein wollte, musste sich hindurch quetschen, Körperkontakt garantiert. Schon da, erst recht aber bei der späteren Performance "The house with the Ocean View" von 2002, wo sie sich zwölf Tage lang rund um die Uhr bei ihren täglichen Verrichtungen bestaunen ließ, machte die Künstlerin ihr Publikum zum Teil ihres Werks.
Besucher schnitten ihre Bluse auf
Häufig kreist Abramovićs Kunst um Begriffe wie Erinnerung, Schmerz, Verlust, Ausdauer und Vertrauen. Schon früh macht sie das eigene Erleben zur Grundlage ihres Schaffens. Sie beginnt die Grenze zwischen Werk und Betrachter aufzubrechen, indem sie ihr Publikum zum bestimmenden Faktor macht, und zwar auf provokante und schonungslose Weise: 1974 führt sie in einer Galerie in Neapel "Rhythm 0" auf. Sie stellt vor sich einen Tisch mit 72 Objekten auf, die die Besucher an ihr ausprobieren dürfen, darunter Rasierklingen, Nägel, Messer und ein Revolver. Manche schneiden der regungslosen Künstlerin die Kleider auf und entblößen ihren Oberkörper. Die Bonner Ausstellung zeigt nun Filmausschnitte aus der Performance, die den Betrachter schaudern lassen.
Noch bei der dritten Station ihrer Retrospektive glaubt die Künstlerin ihr Werk mit "neuen Augen zu sehen", wie sie den Bonner Museumsleuten versicherte. Ihr immer wiederkehrendes Thema ist das Läutern und Säubern, was nicht nur physisch gemeint ist: Begriffe wie Katharsis und Verwandlung rücken zunehmend in den Mittelpunkt ihres Werks und machen es transzendent und vielschichtig.
Marina Abramović eine Multimedia-Künstlerin zu nennen, wäre wohl untertrieben. Am ehesten nähert man sich ihrem Werk von seiner Wirkung: Mal verstört, mal erheitert es. Immer aber ist es klug und berührend. Und noch etwas haftet den so verschiedenartigen Werken an. Sie alle sind sehr persönlich. Das gilt bereits für die namensgebende Arbeit "The Cleaner" von 1956 - eine historische Waschmaschine, deren Auswring-Walzen Abramović mit Blattgold überzogen hat, nachdem sie sich als Kind böse daran verletzt hatte. Genauso gut aber könnte die Retrospektive "The Artist is Present" heißen.