Brasiliens Amazonas: Mit Süßigkeiten den Regenwald retten?
21. Juni 2022Mit Bonbons und Marmelade kämpft Luiz Henrique Lopes Ferreira für seine Heimat. Der 22-Jährige wohnt im östlichen Amazonasgebiet von Brasilien. Er gehört zu einer neuen Generation von Indigenen, die zeigt, wie junge Menschen inmitten der Wälder Geld verdienen und zugleich die biologische Vielfalt schützen. Außerdem geht es ihm darum, die fortschreitende Abholzung des Regenwaldes zu verhindern. Ferreira stellt Süßigkeiten, Konfitüren und Liköre aus vielen verschiedenen Früchten des Waldes her.
Er wohnt im Reservat Extrativista Tapajós-Arapiuns, einem von mehr als 80 Schutzgebieten für nachhaltige Nutzung, die die brasilianische Regierung zwischen 1990 und 2009 geschaffen hat. Das Areal erstreckt sich über etwa 640.000 Hektar und ist damit fast dreimal so groß wie das Saarland. Es besteht fast ausschließlich aus Wald und ist Heimat für Tapire, Jaguare oder Riesengürteltiere sowie Hunderte von anderen Säugetier-, Vogel- und Fischarten.
Die meisten der rund 13.000 Menschen im Reservat sind Indigene oder Caboclo-Gemeinschaften, also Nachfahren aus Verbindungen von Europäern und Indigenen.
Ferreira, der sich selbst als Indigener bezeichnet, wurde in der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas geboren. Vor 15 Jahren ist seine Familie mit ihm ins Reservat gezogen. Seitdem ist es sein Zuhause. "Der Amazonas ist ein spektakulärer Ort zum Leben - hier mitten in der Natur", sagt Ferreira. "Alles ist sehr magisch. Aber unser Frieden ist bedroht."
Mit Früchten des Waldes gegen illegale Rodungen
Das Schutzgebiet wurde Ende der 1990er-Jahre eingerichtet. Davor hatten sich die Bewohner fast zwei Jahrzehnte lang gegen die Holzunternehmen gewehrt, die mit ihren Motorsägen immer weiter in den Wald vordringen wollten. Durch das Reservat soll die Natur geschützt werden. Den Menschen ist Subsistenzlandwirtschaft erlaubt, also Agrarwirtschaft zur reinen Selbstversorgung. Auch nachhaltiges Jagen, Fischen und das Sammeln von Wildpflanzen sind gestattet.
Und doch sind die Motorsägen der Holzindustrie heute die größte Bedrohung für das Reservat, erzählt Ferreira. Sein Zuhause liegt im Bundesstaat Para. Hier fand zwischen 2001 und 2021 die größte Entwaldung Brasiliens statt. Seit dem Amtsantritt von Präsident Jair Bolsonaro im Jahr 2019 ist die Abholzung im Amazonasgebiet so groß wie seit 15 Jahren nicht mehr, denn die Regierung sabotiert systematisch den Umweltschutz.
Neunundneunzig Prozent der Abholzungen im brasilianischen Amazonasgebiet sind illegal. Das mache es für die legal arbeitenden Holzproduzenten schwer, sagt Caetano Scannavino. Denn Holz aus nachhaltigem Anbau könne nicht mit den Dumpingpreisen der illegalen Fällungen konkurrieren. Scannavino ist Koordinator bei der brasilianischen Nichtregierungsorganisation Projeto Saúde e Alegria. Das heißt so viel wie Gesundheit und Lebensfreude. Seit 1987 arbeitet die Initiative imbrasilianischen Amazonasgebiet, um die nachhaltige Gemeinschaftsentwicklung zu fördern. "Wir müssen aus dieser Kultur der Illegalität herauskommen. Und um diese Kultur zu ändern, müssen wir beharrlich sein", sagt Scannavino.
Seit 30 Jahren arbeitet PSA im Bundesstaat Para, zurzeit mit rund 30.000 Menschen. Die Organisation bietet Schulungen und Finanzierungen an. So sollen die Gemeinschaften auf legale Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Schwerpunkte sind zum Beispiel Permakultur und Agrarökologie. Diese Konzepte nachhaltiger Landwirtschaft orientieren sich vorrangig an den natürlichen örtlichen Gegebenheiten.
Auch Ferreira hat mit der PSA zusammengearbeitet. Durch sein kleines Unternehmen haben heute 40 Familien ein Einkommen. Viele junge Leute gehen zwar nach wie vor fort, um für die Holzunternehmen oder in der Stadt zu arbeiten. Gleichzeitig aber bleiben auch viele im Reservat und versuchen, mit den natürlichen Ressourcen des Waldes Geld zu verdienen.
PSA veranstaltet Workshops, schult kommunale und indigene Kooperativen, damit sie Waldprodukte wie Kakao, Honig, Acai und tropische Früchte weiterverarbeiten können, wie zum Beispiel zu Ölen oder Butter. Mit solchen Produkten können die Menschen mehr Geld verdienen.
"Wir müssen helfen, bessere Lebensbedingungen zu schaffen, sonst gehen die jungen Leute in die Stadt", sagt Scannavino. Wenn keiner mehr hier sei, bremse niemand die immer weiter vordringenden Holzunternehmen und Goldschürfer im Regenwald, ergänzt er.
Rettung des Waldes durch den Schutz indigener Rechte
"Wir wissen, dass die Entwaldungsrate viel geringer ist, wenn die indigenen Völker und die lokalen Gemeinschaften ihren Wald sanft bewirtschaften können und auch Rechte an der Waldfläche haben", sagt David Kaimowitz. Er ist Programmleiter der Tenure Facility, einer schwedischen Nichtregierungsorganisation, die sich für die Sicherung der Landrechte indigener Völker einsetzt.
Kaimowitz leitete eine UN-Untersuchung, in der mehr als 300 Studien aus den vergangenen 20 Jahren ausgewertet wurden. Demnach seien Indigene und Stammesgemeinschaften in Lateinamerika und der Karibik die besten Hüter der Wälder, sagt er. Zu einem großen Teil ist das auf ihre kulturellen Praktiken und ihr traditionelles Wissen zurückzuführen. Um diese Art Schutz für die Wälder weiter zu gewährleisten, bräuchten diese Gemeinschaften eine funktionierende Wirtschaft und ein Umfeld, in dem junge Menschen bleiben wollen. "In Teilen des Amazonasgebietes funktioniert das gut”, sagt Kaimowitz. "Wo es diese Strukturen gibt, bleiben die Wälder intakt."
Gerade mal 0,5 Prozent des Waldes sind seit 1985 im Reserva Extrativista Tapajós-Arapiuns gefällt worden. Unterdessen sind die Abholzungen im übrigen Amazonasgebiet so weit fortgeschritten, dass sich der Regenwald dort gefährlich nah dem Kipppunkt befindet, an dem sich die Flächen dauerhaft in trockenes Buschland verwandeln könnten.
Ferreira lebt in der Region Santarem. Seit den 1980er-Jahren sind die Niederschläge während der Trockenzeit um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Die Durchschnittstemperatur ist um gut zwei Grad gestiegen und die Zahl der Waldbrände hat massiv zugenommen. Dadurch wurden mehr als eine Million Hektar Wald zerstört.
Verhinderung von Pandemien an ihrem Ursprung
Der schrumpfende Amazonas-Regenwald hat aber nicht nur Auswirkungen auf das Klima. Er birgt auch gesundheitliche Gefahren.
So sei es für die Vermeidung von Pandemien von entscheidender Bedeutung, dass die Abholzung im Amazonasgebiet eingedämmt wird. Das ist das Ergebnis einer im April 2022 veröffentlichten Studie der Harvard's T.H. Chan School of Public Health.
Der Amazonas-Regenwald gehört zu den artenreichsten Regionen der Welt. Auch zahlreiche Fledermäuse und Primaten leben hier. Diese tragen oft eine für sie selbst ungefährliche Viruslast im Körper. Verlieren die Tiere jedoch ihren Lebensraum und kommen so den Menschen näher, steigt die Gefahr von Zoonosen. Das sind Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden können. Bleiben die Wälder erhalten, verringert sich die Gefahr, dass neue Krankheiten von Wildtieren auf Haustiere und Menschen übergreifen.
Der Schutz der Wälder und ein kontrolliertes Jagdmanagement könnten sogar ein Konzept zur Vermeidung künftiger Pandemien sein, argumentieren die Forscher in der Studie. Außerdem können die Wälder so weiter als wichtige Kohlenstoffsenke fungieren und die biologische Vielfalt bliebe erhalten, heißt es weiter.
"Wenn wir auf einem Planeten mit einem stabilen Klima und einer intakten Biosphäre leben würden, könnten wir es uns vielleicht leisten abzuwarten. Tritt die Katastrophe ein, könnte man versuchen, sie einzudämmen”, so Aaron Bernstein, Hauptautor des Berichts. "In Wirklichkeit leben wir auf einem solchen Planeten schon längst nicht mehr. Und einfach so zu tun, als ob es noch so wäre, ist wohl eine der größten Dummheiten unserer Zeit."