Kirchhoff: Platz für komplexe Geschichten
11. Oktober 2018DW: Was ist das für ein Moment, die letzten Sätze eines so stark biografischen Buches zu schreiben und das Dokument abzuspeichern? Was kam danach: eine große Leere? Erschöpfung? Befreiung?
Bodo Kirchhoff: Das war eine Zäsur, weil ich danach ein großes Gefühl von Freiheit hatte, was ich als nächstes mache. Mir war seit Jahren klar, dass ich dieses Buch schreiben muss. Und das hat die letzten vier Jahre beherrscht; auch wenn ich zwischendurch andere Dinge geschrieben habe. Es war auch eine große Erschöpfung, weil das Buch von seinem Bau her sehr anstrengend war. Die Inhalte, die kannte ich alle. Das war für mich nichts Neues. Aber das wirklich Schwierige war: Wie erzähle ich das? Und da bin ich erst letzten September drauf gekommen, wie ich das mache. Und dann habe ich die ganze Fassung mehr oder weniger in einem Guss geschrieben. Das war recht anstrengend.
Warum ist es keine reine Autobiografie geworden?
Es ist deshalb keine reine Autobiografie, weil die Bilder, auf die ich mich stütze, sowohl die äußeren wie auch die inneren Bilder, natürlich nur vage Anhaltspunkte sind. Und in dem Augenblick, wo die Bilder eine Matrix abgeben, um sich daran weiter zu hangeln und ins Erzählen zu kommen, in dem Moment betritt man im weitesten Sinne diesen Proustschen Kosmos der Recherche und ist eigentlich beim Roman angekommen. Ich denke, dass es ein langweiliger Rapport wird, wenn man faktentreu von seinem eigenen Leben schreibt.
Wie wichtig ist Ihnen der literarische Spielraum, um auch Distanz zu den Figuren zu behalten?
Es war gar nicht anders möglich, über meine Mutter zu schreiben, als eine Distanz herzustellen. Aber auch über mich selbst. Ich habe über mich selbst meistens in der dritten Person geschrieben - in verschiedenen Rollen: mal als Infant, mal als Junge, mal als Unkind, mal als der Soldat oder der Alleinlebende. Und dadurch konnte ich das wahrscheinlich erst erzählen.
Wenn man das nur unmittelbar in der Ich-Form macht, klebt man zu sehr in sich selbst und an sich selbst und das würde auch niemandem nützen. Das ist ja auch ein Buch, das über mich hinaus eine Geschichte erzählt: die Geschichte der drei Nachkriegsjahrzehnte, in denen erwachsene Menschen, die im Krieg zu kurz gekommen waren, alles daran setzten, um aus dieser Enge herauszukommen. Und das haben die Kindergenerationen ausgebadet.
Im Roman erzählen Sie auch davon, wie Sie mit knapp elf Jahren zum Objekt der Begierde eines Kantors an der Evangelischen Internatsschule Schloss Gaienhofen am Bodensee wurden, einem Lehrer für Musik, Religion und Sport, mit wehendem Haar, eine Art Winnetou, mit vollen Lippen lässig Roth Händle rauchend, wie Sie schreiben – das klingt sehr positiv.
Nein, ich beschreibe ihn äußerlich positiv. Ich beschreibe ihn nicht als besonders reizvoll oder besonders freundlichen Menschen oder als besonders Kindern oder Jugendlichen zugewandten Menschen. Er war natürlich jemand, der ganz von seiner Begierde geleitet war.
Und Ihre Reaktion schwankt zwischen Lust und Scham.
Ja, zwischen Reiz, auch dem Gefühl des Erwähltseins und einer glühenden Scham. Das war beides der Fall. Wobei ich im Rückblick und mit dem Abstand der vielen Jahre immer mehr begriffen habe, dass die Attraktivität, die von jemandem ausgeht, auch von dem Kind ausgeht, dass das ein Teil unseres Menschseins ist.
Die Frage ist: Welche Grenzen zieht man? Und mein Gefühl ist, dass der Versuch, das Risiko, was da drin steckt, auf Null zu bringen und nur die Vorteile der Attraktivität zu genießen, dass da etwas nicht stimmt. Ich kann nicht genau sagen, was. Ich habe das Gefühl, dass da etwas nicht stimmt. Im Leben hat alles seinen Preis. Und ich glaube, dass man einen gewissen Preis zahlen muss. Was nicht heißt, dass ich Täter und Opfer verwischen will. Ich glaube, in dem Alter, in dem ich war, gibt es eine ganz klare Grenze. Mir geht es nur darum, wie man das rückblickend betrachtet.
Sie bezeichnen sich auch nicht als Opfer, das ist Ihnen wichtig. Sie sehen sich eher als einen von zwei Beteiligten.
Ich bin einer von zwei Beteiligten. Das Wort "Opfer" umfasst das nicht genau. Ich bin ein lebenslang Geprägter. Aber nicht nur davon, sondern auch durch meine Mutter. Über meiner Sexualität und auch über meinem Schreiben ist ein Verhängnis. Ich glaube aber, dass man das über jede Sexualität sagen kann, im größeren oder im kleineren Umfang. Und ohne dieses Verhängnis wäre Sexualität nur Fortpflanzung. Es hängt etwas über ihr, etwas anderes, das mit dem eigentlichen, ursprünglichen, natürlichen Sinn des Ganzen nichts zu tun hat.
Später wurden Sie von dem neuen Internatsleiter zu dem befragt, was damals geschehen ist. Darüber haben Sie später berichtet, dass Sie in diesem Moment bemerkt haben, wie "aufgeschmissen man in seiner Sexualität ist ohne eine adäquate Sprache".
Das ist richtig. Die Sprachlosigkeit war für mich eine fundamentale Erfahrung. Ich habe in dieser Situation sogar angefangen, Dinge zu erdichten, damit er was hören kann. Und ich habe gemerkt, wie nah man an der Fiktion ist, um sich überhaupt weiterhelfen zu können. Das war für mich eine wichtige Erfahrung. Das war ein Schritt zum Schreiben.
Und wie lang erstreckte sich der Prozess, eine Sprache zu finden?
Der war sehr sehr lang. Das ist sicherlich ein Prozess, der erst in den letzten zehn Jahren für mich eine Höhe erreicht hat, mit der ich leben kann.
Ist Sprache für Sie ein Mittel der Verarbeitung?
Die Bearbeitung fand viel früher statt, in heftigsten Auseinandersetzungen innerhalb von Beziehungen und in meinem Studium. Die Sprache ist ein Versuch oder ein Weg, mit dem Ganzen auszukommen. Und aus dem Ganzen auch etwas zu machen, es sich gestaltend anzueignen und wieder auf die Seite des Subjekts zurückzukehren.
1994 haben Sie in einer Poetikvorlesung an der Goethe-Universität in Frankfurt erstmals über die Vorfälle berichtet. Später haben Sie gesagt, dass das zu früh gewesen sei. Es habe sich niemand dafür interessiert. Was hat sich im Vergleich zu heute geändert?
Ich glaube, diese Debatte hat 2003 erst richtig begonnen. Es gab Jahre davor in der Frankfurter Rundschau schon einen Bericht über die Odenwaldschule (Anm. d. Red.: Dort wurden zwischen 1965 und 1998 systematisch Schülerinnen und Schüler sexuell missbraucht), für den sich niemand interessiert hat.
Das zeigt, dass wir in einer so medial beherrschten Gesellschaft leben, dass die einzelne Stimme eines Autors - wenn der Gesamtzusammenhang nicht da ist - völlig verpufft. Und gleichzeitig wird dann die Stimme des Autors, wenn der Gesamtzusammenhang da ist, in einer unnatürlichen Weise verzerrt und instrumentalisiert. Beim Erscheinen dieses Buch wurde ständig über das Thema geschrieben, obwohl es nur einen Bruchteil des Buchs ausmacht. Das habe ich zutiefst bedauert.
Was hätten Sie stattdessen gern im Vordergrund gesehen?
Es ist eine Mutter-Sohn-Schichte und es ist eine Geschichte der Nachkriegsjahrzehnte, der inneren Geschichte: Was geschieht mit uns? Was geschieht mit Heranwachsenden? Was geschieht mit den Eltern? Das für mich wichtigste Kapitel beschreibt, wie ich mir an dem Ort, an dem meine Eltern wahrscheinlich auch waren, vorstelle, wie sie zusammen essen gingen. Ich habe dieses Essen so erzählt, dass ich für mich begriffen habe, warum ihre Ehe auseinandergehen musste und warum wahrscheinlich sehr viele Ehen auseinandergegangen sind. Das sind für mich wichtige Dinge.
Das Buch erscheint nun aber in Zeiten von #Metoo und den neuesten Erkenntnissen über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in der katholischen Kirche in Deutschland. Und Sie haben quasi in einer privilegierten Position das Sprachefinden zu eigenen Missbraucherfahrungen zu ihrem Beruf gemacht. Verbinden Sie diese Fälle in der Presse mit Ihrem Leben?
Ich bin natürlich in einer privilegierten Situation, weil ich mich über Jahrzehnte in Ruhe mit diesen Dingen auseinandersetzen konnte. Und weil ich eher dafür Lob bekam, als dass mir jemand gesagt: "Sie müssen jetzt diese Firma verlassen." Insofern kann ich ich mich in diese Menschen hineinversetzen. Was ich nicht verstehe ist, wenn Menschen sich an etwas dranhängen, weil sie dadurch plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit kommen und Aufmerksamkeit genießen. Für mich gilt bei jeder Sache, in der ich mich exponiere, dass es der Sache mehr dienen muss als mir.
2010 haben Sie sich mit einem Essay für das Magazin "Der Spiegel" exponiert. Darin beschreiben Sie, was Sie mit ihrem Lehrer am Internat, einem "großartigen Kantor und verdammten Päderasten" erlebt haben. Was war damals der Auslöser, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Ich hatte damals das Gefühl, dass nirgends genau geredet wird, sondern dass immer nur ein Begriff da ist - ohne dass der in irgendeiner Weise gefüllt wird. Das ging mir am Ende so auf die Nerven, dass ich den Essay geschrieben habe. Ich wollte einen anderen Blick auf das Thema.
Ist der andere Blick jetzt da?
Nein. Der andere Blick ist nicht wirklich da. Er war zeitweilig da. Er ist auch nicht besonders populär, muss man dazu sagen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Geschichten, wenn sie in einer Zeitung stehen und noch mehr, wenn sie in den Fernsehnachrichten kommen, über eine bestimmte Länge nicht hinausgehen. Da hat selbst die komplexeste Geschichte nicht mehr als 5000 Zeichen. Und alles, was ich meine, hat sehr viel mehr Zeichen. Und das ist das Grundproblem. Wenn man mit immer größeren Worten auf immer kleinerem Raum etwas ausdrückt, wird es immer falscher. Deswegen habe ich auch dieses Buch geschrieben und deswegen hat es fast 500 Seiten, weil ich glaube, dass es dadurch etwas richtiger wird.
"Dämmer und Aufruhr - Roman der frühen Jahre", Frankfurter Verlagsanstalt, 480 Seiten
Bodo Kirchoff arbeitet und lebt in Frankfurt am Main und seiner Residenz am Gardasee. Für seine Novelle "Widerfahrnis" wurde der Schrifsteller 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, einem der wichtigsten deutschen Literaturpreise. Zu seinen weiteren Werken gehören "Die Liebe in groben Zügen" (2012), "Eros und Asche" (2007), "Parlando" (2001) und Drehbücher für Kino- und Fernsehfilme.
Das Gespräch führte Laura Döing.