Buchpreis 2016 für Bodo Kirchhoff
17. Oktober 2016Es waren sechs äußerst unterschiedlich Bücher, die die Jury auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gehoben hatte: Texte von herausragender ästhetischer Gestaltung und mit starkem Gegenwartsbezug - eine mutige Auswahl. Mit Bodo Kirchhoff wurde am Ende der erfahrenste der sechs Schriftsteller ausgezeichnet. Sein Buch erzählt vom spontanen Aufbruch zweier einsamer Menschen nach Süden: Ein ehemaliger Verleger und eine Hutmacherin, die ihr Geschäft aufgegeben hat, folgen ihrer gemeinsamen Sehnsucht nach Liebe, Italien und Abenteuer bis nach Sizilien.
Die beiden Menschen jenseits der Fünfzig sind wie aus der Zeit gefallen, bis ihnen plötzlich "das Weltgeschehen" in Gestalt eines Flüchtlingsmädchens begegnet. "Die Liebe ist eine äußerst gefährdete Sache", sagt Bodo Kirchhoff. "Sie braucht die Wahrheit der Welt, um nicht schal zu werden." Mit "Widerfahrnis" hat der Autor ein Buch über die Liebe im Alter geschrieben, die an der Begegnung mit den Realitäten der Gegenwart scheitert und doch die Möglichkeit zum Neubeginn in sich trägt.
"Die Liebe ist eine äußerst gefährdete Sache"
"Kirchhoff gelingt es, in einem dichten Erzählgeflecht die großen Motive seines literarischen Werks auf kleinem Raum zu verhandeln", zitiert Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, das Juryurteil. "'Widerfahrnis' ist ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existentielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt." Auf kleinstem Raum etwas zu erzählen, was sich im Großen abspielt, das sei die Kunst der Parabel.
Bodo Kirchhoff selber erklärt im Gespräch mit der Deutschen Welle, worum es ihm beim Schreiben ging: "Ich glaube, dass mein Buch eine Geschichte ist, die im anschaulichen Kleinen zeigt, wo genau das Scheitern ansetzt. Aber was wichtiger ist: Die Parabel versucht, für etwas, für das unsere öffentliche Sprache abgegriffen und ausgelutscht ist, eine andere, einfache und vielleicht treffendere kleine Sprache zu finden." Ihm komme es darauf an, etwas erzählbar zu machen, "ohne alle möglichen Zusammenhänge mitzuerzählen". Die Größe des Faktischen bestehe nicht in der Größe der Zahl, meint der Autor - und erinnert daran, dass sich die Bundeskanzlerin im letzten Jahr dieser Erkenntnis "gebeugt" habe.
"Ich konnte einfach gar nichts machen"
Italien war für Kirchhoff nicht nur Handlungsort seiner beiden letzten Romane "Verlangen und Melancholie" und "Die Liebe in groben Zügen". Auch das Manuskript seines jetzt ausgezeichneten Buchs reifte auf einer Italienreise. Auf dieser Reise begegnete ihm ein bettelndes Mädchen. "Was ich auf dieser Reise gesehen habe, hat sich mir eingeschrieben. Es hatte letztlich etwas sehr Beschämendes für mich. Ich konnte einfach gar nichts machen. Ich war ratlos. So fing dann das Schreiben an." Da ist sie, Kirchhoffs Welthaltigkeit.
"Widerfahrnis" darf sich jetzt mit dem Etikett "bester deutschsprachiger Roman des Jahres 2016" schmücken. Dabei ist das Buch eigentlich gar kein Roman, sondern vom Verlag als Novelle deklariert. Doch wen interessiert das? Die Jury nicht. Ihr Sprecher Christoph Schröder erinnert an den Satz des verstorbenen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: "Roman ist ein erzählendes Werk von mehr als 200 Seiten."
Eine Novelle als "bester deutschsprachiger Roman des Jahres"
Ohnehin hatte die Jury sich von einem engen Genrebegriff verabschiedet. Thomas Melles autobiografische Krankheitsgeschichte "Die Welt im Rücken", das als Mitfavorit für den Preis galt, ist explizit nicht fiktional - und doch von großem literarischen Wert. Eva Schmidts "Ein langes Jahr" lässt sich als eine Sammlung von Episoden lesen, ein Kaleidoskop alltäglicher Geschichten. Und Philipp Winklers Debütroman "Hool", ebenfalls auf der Shortlist, als sprachlich an die Grenze gehende Studie eines Milieus, das bisher noch niemand im Roman beschrieben hatte. André Kubiczeks "Skizze eines Sommers" könnte als Jugendbuch aufgefasst werden. Einzig Reinhard Kaiser-Mühleckers "Fremde Seele, dunkler Wald" entspricht mit einer Länge von 302 Seiten sowie seiner Konstruktion und Sprache herkömmlichen Vorstellungen von einem Roman.
Der Deutsche Buchpreis wurde 2016 zum 12. Mal vergeben. Seit drei Jahren ist die Deutsche Bank-Stiftung Partner des Deutschen Börsenvereins. Für den Sieger ist die Auszeichnung mit 25.000 Euro honoriert.