"Black Lives Matter wäre nicht ins US-Kapitol gelangt"
7. Januar 2021DW: Herr Prof. Martschukat: Was kam Ihnen in den Sinn, als Sie die Bilder aus Washington gesehen haben?
Jürgen Martschukat: Natürlich Irritationen und der Schock. Zugleich ist es das, womit man rechnen konnte, denn bewaffnete Trump-Anhänger patroullierten ja auch schon vorher auf den Straßen...
Hat es so einen Sturm auf das Parlament in der amerikanischen Geschichte schon einmal gegeben?
Ich wüsste nicht. Natürlich gab es auch in Washington D.C. immer wieder mal Proteste oder gewalttätige Ausschreitungen. Aber nicht in dieser Form. Besonders schockierend und auch längerfristig problematisch ist diese vollkommene Missachtung von demokratischen Institutionen auf allen Ebenen. Das macht es auch so bedrohlich. Man spürt: Wir sind möglicherweise an einem Wendepunkt in der Geschichte der Demokratie.
Warum?
Wir beobachten in den letzten Jahren, während der Trump-Präsidentschaft, ja schon länger eine Missachtung von Instanzen und fehlenden Respekt vor demokratischen Verfahren. Das hat sich immer weiter zugespitzt und hat jetzt, in der Auseinandersetzung über die Gültigkeit der Wahl und ihrer Ergebnisse, einen Höhepunkt erreicht.
Sie sind Experte für US-Geschichte. Hat es da jemals einen Präsidenten gegeben, der so demokratieverachtend aufgetreten wäre wie Trump?
Nein, das ist neu. Das ist eine neue Qualität, das muss man so sagen.
Man sollte meinen, da entzieht jemand sich selbst das Fundament seiner Macht, die Demokratie?
Ja, das ist ja ein hochgradig erratisches Verhalten; schon am Wahlabend, als Trump forderte, die Auszählung zu stoppen. Mit solchen Äußerungen hat er seine treue Anhängerschaft im Auge, die es ja auch immer noch gibt - er hat immerhin über 74 Millionen Wählerstimmen bekommen. Dieses Fundament seiner Macht will er weiter mobilisieren und sichern.
Welche kulturhistorische Dimension haben die Ereignisse von Washington?
Schwer zu beurteilen. Aber es sind Unterschiede zutage getreten beim Umgang mit verschiedenen Formen des Protestes: Wie war es in diesem - seit Jahrzehnten auf Hochsicherheit getrimmten - Land überhaupt möglich, dass die Leute Zugang zum Kapitol fanden? Linken oder von Black Lives Matter organisierten Protesten wäre das sicher nicht möglich gewesen. Ich kann mir vorstellen, dass einerseits die Differenzen in der amerikanischen Gesellschaft hier noch mal extrem auf den Punkt gebracht worden sind - die herrschende Feindseligkeit -, aber auch die große Unzufriedenheit der Leute mit dem, was da gerade in der Gesellschaft und im politischen Prozess vor sich geht.
Hat das Ansehen der Demokratie als Gesellschaftsform weiter gelitten?
Wenn man versucht, die Ereignisse positiv zu werten, muss man festhalten, dass beide Kammern des Kongresses noch in der Nacht, morgens um halb vier Ortszeit, die Ergebnisse aus den Bundesstaaten bestätigt haben. Das heißt doch, dass trotz einer solchen Bedrohung die demokratischen Institutionen und Verfahrensweisen gezeigt haben, dass sie funktionieren. Nun muss man sehen, ob es gelingt, die richtigen Lehren aus dem zu ziehen, was in der letzten Nacht und in den letzten Jahren passiert ist - zum Beispiel, indem man stärker absichert, dass eine solche anhaltende Missachtung der demokratischen Institutionen unmöglich wird. Das wird die Frage in den nächsten Wochen und Monaten sein.
Trump also als Stresstest für das demokratische System der USA, das am Ende aber funktioniert hat?
Das könnte man so sehen. Trotz massiver Störungen hat sich die Demokratie seit den Präsidentschaftswahlen immer wieder als stabil gezeigt. Die Gewaltenteilung hat funktioniert, das System der Checks and Balances. Letzten Endes haben die Institutionen funktioniert. Aber sie haben auch gezeigt, wie fragil sie sind.
Der Historiker Jürgen Martschukat, Jahrgang 1965, lehrt Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind nordamerikanische Kulturgeschichte, Geschichte der Gewalt, Geschichte der Familie, Geschlechtergeschichte und Geschichtstheorie.
Das Gespräch führte Stefan Dege.