Biontech: Der rasante Weg zum ersten Corona-Impfstoff
9. November 2020"Lightspeed", also Lichtgeschwindigkeit, so wurde das Mitte Januar gestartete Projekt des deutschen Unternehmens Biontech genannt. Es ging um nichts Geringeres als um die Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus in Rekordzeit. Und mit Lichtgeschwindigkeit ging es quasi seitdem voran. Braucht die Entwicklung eines Impfstoffes in normalen Zeiten acht bis zehn Jahre, so könnten es die Forscher aus Mainz in gut einem Jahr schaffen, ihren Impfstoff bis zur Zulassung in den USA zu bringen.
Mitte November soll es soweit sein. Dann will Biontech mit seinem Partner Pfizer in den USA eine Notfallgenehmigung beantragen. Die vorliegenden Daten würden auf einen 90-prozentigen Schutz vor COVID-19 hindeuten, teilten Biontech und Pfizer am Montag mit. Sie wären damit im Impfstoffrennen die Ersten in der westlichen Welt.
Auch die europäische Pharmaaufsicht EMA hat den Genehmigungsprozess des Corona-Impfstoffs von Biontech und Pfizer Anfang Oktober eingeläutet. Der Impfstoff wird derzeit in einer Studie an Zehntausenden Teilnehmern getestet. Um den Zulassungsprozess zu beschleunigen, würden nun laufend Zwischenergebnisse geprüft, bis genügend Erkenntnisse für eine Entscheidung über eine Zulassung vorlägen, heißt es von EMA.
Krebstherapie mit Hilfe des Immunsystems
Hinter dem Biotech-Unternehmen Biontech stehen vor allem zwei Menschen: das Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci. Schon im Januar dieses Jahres, als in China das Coronavirus wütete und sich in Deutschland noch kaum jemand ernsthafte Sorgen um eine Pandemie machte, haben die beiden Mediziner Sahin und Türeci reagiert und ihre Forschung auf einen Impfstoff gegen das Coronavirus ausgerichtet. Drei Monate später hatten sie die ersten Impfstoffkandidaten in der klinischen Entwicklung.
Bislang hatten die beiden ihren Fokus auf den Kampf gegen den Krebs gerichtet. Dabei unterscheidet sich ihr Ansatz deutlich von der herkömmlichen Krebsbehandlung. Da es keine zwei Krebspatienten gibt, bei denen die genetische Mutation von Krebszellen exakt dieselbe ist, sollten Krebspatienten nicht einheitlich mit Operationen, Chemotherapien oder Bestrahlung behandelt werden, meinen die beiden Mediziner. Vielmehr braucht jeder Patient eine speziell auf ihn zugeschnittene Behandlung.
Dabei nutzen Sahin und Türeci, dass sich der menschliche Körper bei einem Angriff von Bakterien oder Viren oft selbst helfen kann. Ihr Ziel ist es, eine Immuntherapie zu entwickeln, die die Selbstheilungsmechanismen anregt und die körpereigene Polizei losschickt, um bösartige Tumore unschädlich zu machen.
Forschung als Lebensmittelpunkt
"Ich habe sehr frühzeitig erkannt, dass ich mich für Wissenschaft interessiere", sagte Sahin anlässlich der Verleihung des Mustafa-Preises 2019. Geboren in der Türkei, war er als Vierjähriger mit seiner Mutter nach Köln gezogen, wo sein Vater bei den Ford-Werken arbeitete. Nach dem Abitur studierte er an der Universität Köln Medizin. "Ich habe mich für Immuntherapie interessiert", so der heute 54-Jährige. Und dafür, wie das Immunsystem funktioniert und wie man es anleiten kann, Krebszellen zu identifizieren und zu attackieren.
Schon als junger Forscher mit gerade 20 Jahren habe er angefangen, im Labor zu arbeiten, erzählt Sahin. "Wir hatten am Vormittag bis 16 Uhr Vorlesung und während meine Mitstudenten dann nach Hause gefahren sind, bin ich ins Labor hochgegangen und habe dort gearbeitet. Meistens bis 21, 22 Uhr, manchmal bis morgens vier Uhr", erinnert sich Sahin. Anschließend fuhr er mit dem Fahrrad nach Hause.
Sahin sagt von sich selbst: "Ich kann eigentlich nicht sagen, dass mir Forschung schwer gefallen ist." 1992 promovierte Sahin mit "Summa cum laude", anschließend arbeitete er als Arzt für Innere Medizin und Hämatologie/Onkologie an der Universität Köln, wo er 1999 habilitiert wurde. Es folgte der Wechsel an das Universitätsklinikum des Saarlandes, wo er seine spätere Frau, Özlem Türeci, kennenlernte.
Özlem Türeci: Fürsorge für Patienten im Mittelpunkt
Özlem Türeci ist die Tochter eines türkischen Arztes, der aus Istanbul nach Deutschland gekommen war. Als Sahin ins Saarland kam, studierte Türeci dort Medizin. Heute gilt die Privatdozentin der Universität Mainz als Pionierin der Krebsimmuntherapie. "Geprägt durch meinen Vater, der als Arzt arbeitete, konnte ich mir schon als Mädchen keinen anderen Beruf vorstellen", sagte Özlem Türeci der Onlineseite wissenschaftsjahr.de. "Die Praxis meines Vaters lag im Haus der Familie, wir spielten als Kinder zwischen den Patienten; es gab schon damals im Elternhaus keine strikte Trennung zwischen Work und Life", so Türeci.
Geprägt sei sie vor allem von ihrer Famillie, sagte sie gegenüber innovationsland-deutschland.de, einem Portal des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. "Mein Vater war ein den Patienten sehr zugewandter Mediziner, und bereits als Kind habe ich von ihm Anspruch und Haltung gegenüber meinem heutigen Beruf mitbekommen, nämlich dass die Fürsorge um den Patienten der Fokus ist." Helfen wollte sie genau wie ihr Vater. Erst als Nonne, wie sie dem Magazin Impulse erzählte. Dann aber entschied sie sich für die Medizin.
Als Türeci und Sahin 2002 heirateten, arbeitete Sahin bereits an der Universitätsklinik Mainz. Selbst am Hochzeitstag soll Sahin im Labor gestanden haben - vor dem Termin beim Standesamt und danach auch wieder.
Unternehmensgründungen: Die Geburt von Biontech
2001 gründeten Sahin und Türeci das biopharmazeutische Unternehmen Ganymed Pharmaceuticals, das immuntherapeutische Krebsmedikamente entwickelt. 2016 wurde es für mindestens 422 Millionen Euro verkauft. 2008 folgte dann die nächste Gründung von Sahin, Türeci und anderen: Biontech. Hier werden vor allem Technologien und Medikamente für individualisierte Krebsimmuntherapien entwickelt. Bis zur Zulassung hat es allerdings noch keines geschafft.
Mit dem Fahrrad fährt Sahin auch noch als Vorstandsvorsitzender von Biontech. Daneben lehrt er weiterhin an der Universität Mainz. Seine Frau Türeci verantwortet als Vorstand Medizin die klinische Entwicklungsarbeit und ist ebenfalls weiterhin als Privatdozentin an der Universität Mainz tätig.
Einer seiner Wegbegleiter, Andreas Kuhn, sagte anlässlich der Mustafa-Preisverleihung über Sahin: "Ich habe selten jemanden getroffen, der so klug ist wie Herr Sahin. Er ist den Leuten immer einen Schritt voraus. Wenn man eine neue Idee einbringt, ist er im Prinzip schon da und hat das vorausgesehen." Seit 13 Jahren arbeitet Kuhn bei Biontech und ist inzwischen Senior Vice President RNA Biochemistry & Manufacturing.
"Herr Sahin hat mich von Anfang an begeistern können und ich denke, das ist auch eine seiner Stärken, dass er Leute für die Sache begeistern kann", so Kuhn. Dabei würde er nicht nur mit wissenschaftlichen Argumenten überzeugen, sondern auch mit seiner eigenen Begeisterung anstecken.
Mehr als 1300 Mitarbeiter aus über 60 Ländern arbeiten derzeit bei Biontech, davon sind mehr als die Hälfte weiblich und hoch gebildet - rund ein Viertel haben einen Doktortitel oder PhD (Doctor of Philosophy). Im Oktober gelang der Sprung auf das internationale Parkett mit dem Börsengang an der US-Technologiebörse Nasdaq. Durch Zukäufe ist das Unternehmen beständig gewachsen.
Die Hoffnung liegt auf BNT162b2
Ihr Grundsatz sei, zu identifizieren, welche Dinge wir wirklich nicht ändern können, und sie zu akzeptieren, sagte Türeci gegenüber innovationsland-deutschland.de. Aber man müsse sich mit Entschlossenheit und Mut auf Dinge konzentrieren, die in unserem Einflussbereich sind, und der sei oft größer, als man zunächst glaube.
Mut zeigen Sahin und Türeci auch in dieser Krise. "Um bei einer möglichen Zulassung unseres Impfstoffkandidaten BNT162 unmittelbar Impfstoffdosen für den kommerziellen Vertrieb bereitstellen zu können, investieren wir bereits jetzt massiv in den Ausbau unserer Produktionskapazität. An unseren beiden Standorten in Idar-Oberstein und Mainz laufen die Produktionsstraßen bereits heute teilweise rund um die Uhr", heißt es im aktuellen Geschäftsbericht. "Unsere Zielsetzung ist von Anfang an gewesen, wichtige Schritte parallel zu machen, damit wir da innerhalb der Zeitlinie blieben", sagte Sahin in einem ZDF-Interview.
Die langjährige Forschungsarbeit zahlt sich inzwischen für das Mediziner-Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci aus. Ugur Sahin hält 18 Prozent der Biontech-Aktien und ist mit dem Erfolg des Unternehmens schlagartig unter die 100 reichsten Deutschen aufgestiegen - zumindest auf dem Papier.