"Ich lebe": Wie Kinder Kriege überleben
20. September 2020"Alles begann mit einem Foto", sagte Martina Dase, Kommunikationsdirektorin von Save the Children Deutschland, bei der Veranstaltung "Ich lebe. Kindheit im Krieg: Eine weltweite Studie" während des Internationalen Literaturfestivals in Berlin (ILB): 1919 war die britische Sozialreformerin Eglantyne Jebb so entsetzt, als sie hungernde Kinder auf einem Zeitungsfoto sah, dass sie beschloss zu handeln: Sie begann Spenden zu sammeln, um dafür zu sorgen, dass alle Jungen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten künftig mit Lebensmitteln und Medizin versorgt würden. Die Organisation "Save the Children" wurde im selben Jahr ins Leben gerufen und bereits ein Jahr später in Genf als internationaler Verband aufgestellt. Heute gehört "Save the Children" zu den größten politisch unabhängigen Kinderhilfsorganisationen der Welt.
100 Jahre "Save the Children"
Anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens erscheint nun ein Fotoband, der an die Pionierin der Kinderrechte und ihre bahnbrechenden Leistungen erinnern soll. Martina Dase und der Fotograf Dominic Nahr entwickelten gemeinsam das Fotoprojekt, als sie für eine Zeitschrift in einem Flüchtlingslager im Libanon arbeiteten. Die Begegnung mit einem jungen syrischen Mädchen brachte sie auf die Idee, weltweit nach Menschen zu suchen, die als Kinder im letzten Jahrhundert Kriege miterlebt haben.
Geflüchtet und von der Familie getrennt
Sie fanden Menschen in Syrien, Kolumbien, Ruanda, Afghanistan, Kambodscha, Nigeria, Korea, Spanien oder Deutschland. Gesucht hatten sie sie mit Hilfe von Zeitungsanzeigen, Archiven und alten Fotos. Insgesamt neun Monate reiste Nahr für das Projekt um die Welt. Der gebürtige Schweizer hat schon oft in Konfliktgebieten gearbeitet.
Während des Projekts fiel auf, dass die Menschen ähnliches erlebt hatten: "Im Krieg ein Kind zu sein, verbindet sie. Natürlich waren in jedem Fall die Umstände anders, aber es gab viele Aspekte, die ähnlich waren, zum Beispiel, dass alle weglaufen mussten und von ihren Familien getrennt wurden", erklärt Nahr im DW-Interview.
Inspirierende Charaktere
Besonders beeindruckt war er von der Begegnung mit Mawla Jan Nazari, der in der Nähe der afghanischen Hauptstadt Kabul aufgewachsen war, und 1979 während der sowjetischen Intervention mit seiner Familie nach Pakistan fliehen musste. Er war damals 14 Jahre alt und landete in einem Flüchtlingslager, in dem die Organisation "Save the Children" Hilfe leistete.
Mawla Jan "tauchte direkt in seine Geschichte ein", bevor er überhaupt mit der Zubereitung des Tees fertig war, um die Reporter zu begrüßen. "Er hatte eine sehr starke Energie", erinnert sich Nahr. Inzwischen ist Mawla Jan 54 Jahre alt und Vater von elf Kindern im Alter zwischen eins und 27 Jahren. Er lebt in Kabul und arbeitet für die Unabhängige Wahlkommission Afghanistans.
Ein 106 Jahre alter Augenzeuge
Für seine Bilder reiste Nahr in die entlegensten Gegenden der Welt. Doch eine seiner eindrucksvollsten Begegnungen hatte er mitten in Berlin. Dort traf er Erich Karl. Ende September feiert er seinen 107. Geburtstag. Er ist ein Überlebender des Ersten Weltkriegs - und nicht nur das. Er musste in seinem langen Leben viele Kriege und Konflikte miterleben. 1939 wurde er vom Militär eingezogen und nach Ostpreußen geschickt. Der Fotograf war von "Herrn Karl", wie er ihn nennt, zutiefst beeindruckt: "Ich mag ältere Menschen, sie haben viele Geschichten zu erzählen", sagt Nahr. "Es war komisch, weil ich in meinen 30ern bin und er in seinen 100ern, aber wir waren wie zwei Typen, die rumhängen und über Technik reden." Der 106-Jährige hat sich erst kürzlich beigebracht, einen Computer zu benutzen.Durch einen unwahrscheinlichen Zufall besteht sogar eine direkte visuelle Verbindung zwischen "Herrn Karl" und der 11-jährigen Amal aus Homs, die ebenfalls in dem Bildband auftaucht: Vom Balkon seiner Berliner Wohnung sieht Erich Karl auf ein Lager mit Notunterkünften für Flüchtlinge - die meisten von ihnen stammen aus Syrien.
Der Bildband "Ich lebe. Wie Kinder Kriege überstehen - Ein Jahrhundertporträt" erscheint Ende November 2020 im Kerber Verlag. Die Fotos werden begleitet von Texten von Anne-Sophie Mutter, Margrethe Vestager und Ban Ki-moon.
Adaption: Sabine Oelze