Besteht der britische NHS den Corona-Test?
15. März 2020Kaum zu glauben, aber der britische National Health Service (NHS) galt einst als internationales Vorbild dafür, wie man ein öffentliches Gesundheitswesen effizient und dabei sozial gerecht organisieren kann. Für die Patienten ist die Behandlung kostenlos, sie wird aus Steuermitteln finanziert.
Doch die Zeiten, in denen der NHS ein allseits verehrtes Nationalheiligtum war, sind vorbei - heute ist das Gesundheitswesen selbst malad und dringend therapiebedürftig. Jahrelang wurde es nicht ausreichend mit Geld, Personal und Material ausgestattet. Regierung um Regierung machte große Versprechen, den NHS finanziell und strukturell zu erneuern, aber auf die Worte folgten in den seltensten Fällen Taten.
Die Infusion, an der der geschwächte NHS hängt, mag im Normalzustand irgendwie genügen. Aber angesichts der Corona-Pandemie, die auch die britische Insel erreicht hat, dürfte der NHS weitaus mehr Geld, Personal und Ausstattung benötigen, um arbeitsfähig zu bleiben.
Immerhin signalisierte Finanzminister Rishi Sunak diese Woche Entspannung, als er ankündigte, es gäbe zusätzliche Mittel, damit der NHS in der Krise liquide bleibe. "Fünf Milliarden Pfund (5,6 Milliarden Euro) liegen bereit, um das Coronavirus zu bekämpfen", sagt Analyst Mark Dayan vom überparteilichen Gesundheits-Thinktank Nuffield Trust. "So einen Reservefonds für verschiedene öffentliche Bereiche hat es bisher nicht gegeben. Es ist klar, dass der NHS schnell Maßnahmen ergreifen können muss, um die Kapazitäten auszubauen - auch einfache Sachen wie Schutzkleidung kaufen, Überstunden bezahlen und Pflegekräfte in Ausbildung miteinbeziehen."
Geld ist nur ein Trostpflaster
Aber ist das Geld mehr als ein Notverband? Zehntausende Pflegestellen sind nicht besetzt, die Krankenhäuser sind dauerhaft an ihrer Kapazitätsgrenze. Und nicht nur sind die Betten ständig belegt, es gibt einfach weniger Betten als in EU-Ländern wie Deutschland.
Gesundheitsminister Matt Hancock stellte kürzlich 5000 zusätzliche Betten für Intensivstationen in Aussicht. Das klingt zwar erst einmal gut, aber auf dem zweiten Blick stellt man sich die Frage, ob Hancock seinen Vorstoß zu Ende gedacht hat.
"Viele Menschen verstehen gar nicht, was intensivmedizinische Betreuung überhaupt bedeutet", sagt Nicki Credland von der Medizinischen Fakultät der Universität Hull. "Das ist nicht nur ein Bett - sondern ein Bett mit jeder Menge Gerätschaften und hoch qualifiziertem und erfahrenem Personal. Für jedes Bett auf einer Intensivstation rechnet man mit mindestens vier voll ausgebildeten Intensivpflegekräften." Credland, die auch die britische Vereinigung der Intensivpflegekräfte BACCN leitet, rechnet vor, dass zu den 5000 neuen Betten also auch 20.000 zusätzliche Pflegerinnen und Pfleger benötigt werden. Eine Intensivpflegekraft durchläuft in Großbritannien ein vierjähriges Studium und eine Spezialausbildung. "Die wachsen nicht einfach so auf den Bäumen", sagt Credland.
Eine ungesunde Politik
Um seinen Personalbedarf zu decken, hat der NHS schon in der Vergangenheit Pflegekräfte aus dem Ausland abgeworben, maßgeblich auch aus der Europäischen Union, die Großbritannien vor sechs Wochen verlassen hat. In den dreieinhalb Jahren, in denen das Land auf den Brexit zusteuerte, sind viele Ärztinnen und Pfleger weggezogen. Die Unsicherheit, ob Bürger aus EU-Staaten nach dem Ende der Übergangsphase ab Januar 2021 dauerhaft bleiben können, dauert an - das hat einen Exodus ausgelöst, der dem System weiter zusetzt.
Dazu kommen die neuen Pläne der konservativen Regierung von Boris Johnson, Einwanderung zu regeln: Großbritannien strebt ein Punktesystem an, das Arbeitskräften ohne akademische Ausbildung kaum noch Chancen bietet. Davon könnten auch Pflegerinnen und Pfleger betroffen sein. Mark Dayan vom Nuffield Trust sagt: "Natürlich stellt sich die Frage, ob die neuen Einwanderungsregeln eine abschreckende Wirkung entfalten. Auf jeden Fall sind sie sehr schlecht für die Pflegebranche, weil sie fast jeden aussperren, der in diesem Bereich arbeiten will."
Das sind düstere Aussichten für einen Sektor, der ohnehin in keinem guten Zustand ist. Dringend benötigte Reformen wurden immer wieder verschleppt, die Personalnot wurde tatenlos hingenommen. "Genauso dringend benötigen wir Altenpfleger, die ältere Menschen in deren Wohnungen oder in Heimen pflegen, wenn sie sich mit dem Coronavirus infizieren", sagt Dayan.
Risiko: Rentner als Reservisten
In Notlagen sind Notfallmaßnahmen erforderlich - sofern sie realistisch sind. Das Gesundheitsministerium zieht bereits in Betracht, ehemalige Ärzte und Pflegekräfte aus der Rente zu holen und im Kampf gegen die Corona-Pandemie einzusetzen. Doch ist das überhaupt ein gangbarer Weg?
"Dabei gibt es viel zu bedenken", sagt BACCN-Leiterin Credland. "Nach dem Renteneintritt können Pflegekräfte ihre Registrierung nicht unbegrenzt lange behalten, sie bilden sich beruflich ja nicht mehr weiter." Sobald die Registrierung ablaufe, seien sie auch nicht mehr versichert. Und von dieser administrativen Hürde abgesehen gebe es auch praktische Hindernisse: "Seien wir ehrlich, die meisten Menschen gehen zu einem Zeitpunkt in Rente, an dem sich das Alter bemerkbar macht. Die Teile der Bevölkerung, die 60, 65 oder älter sind, sind sowieso schon durch so ein Virus stärker gefährdet. Diese Menschen in eine risikoreichen Umgebung zurückzuholen, ergibt aus unserer Sicht einfach keinen Sinn."