Berlinale: Dominik Graf warnt mit Kästners "Fabian"
4. März 2021Eine U-Bahnstation im Berlin-Wilmersdorf der Gegenwart. Ein moderner Zug fährt ein, Menschen steigen aus und ein, sie sind gekleidet, wie Menschen heutzutage gekleidet sind, ein Mädchen klappt einen Tretroller aus. Als die Kamera die Stufen empor gestiegen ist, landet der Zuschauer plötzlich im Berlin der späten 1920er Jahre.
Hier begegnen wir Tom Schilling in der Rolle des Moralisten Jakob Fabian. Domink Grafs Verfilmung von Erich Kästners 1931 erstmals veröffentlichtem Roman "Fabian" läuft im Wettbewerb der 71. Berlinale.
Jakob Fabian ist ein nüchterner Beobachter. Es zieht den noch verhinderten Schriftsteller zwar ins ausschweifende Berliner Nachtleben, das lasterhaft und praktisch ohne Regeln ist. Doch er geht nicht darin auf. Fabian sieht das Unmoralische der Menschen, an deren Wandel er nicht glaubt. Als distanzierter Fatalist arrangiert er sich mit den Gegebenheiten.
Seinem idealistischen und trotz (oder wegen) eines reichen Elternhauses dem Kommunismus zugeneigten Freund Labude (Albrecht Schuch) entgegnet er: "Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen - und die Gerechten noch weniger." Für das eigene Fortkommen gilt es damals, Kompromisse einzugehen, Prinzipien zu opfern und sich, wenn nötig, zu prostituieren.
So viel Kästner steckt in Fabian
Der Protagonist trägt autobiografische Züge seines Autors. Wie Fabian trug Kästner ein Herzleiden aus dem Ersten Weltkrieg mit sich. Die harte Ausbildung setzte dem 18-jährigen Rekruten Kästner derart zu, dass ihm immerhin ein Kampfeinsatz erspart blieb - im Gegensatz zu Fabian. Die Erfahrungen machten Kästner zum Pazifisten, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Remilitarisierung aussprach. Seine Figur Fabian lehnt es ab, auf Tontauben zu schießen, die Salven lassen ihn zusammenschrecken.
Fabian ist Werbetexter - wie es auch Kästner eine Zeit lang war - und erlebt bald das gleiche Schicksal wie so viele Menschen in jener Zeit: Die ausgelassenen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg enden in Inflation und Weltwirtschaftskrise. Fabian verliert seine Anstellung. Er ahnt, dass dem moralischen Verfall bald der politische folgen wird, auf den Straßen skandieren rechte Propagandisten bereits "Deutschland erwache".
Nach und nach werden die Verluste schmerzhafter: Seine große Liebe Cornelia (Saskia Rosendahl) lässt sich für die erträumte Karriere als Filmschauspielerin mit einem deutlich älteren Gönner ein. Bald darauf verliert Fabian auch seinen besten Freund Labude. Fabian flieht aus dem Sündenpfuhl, doch seine Rettung scheitert an der Unmöglichkeit, in einer unmoralischen Welt zu überleben.
Renaissance der Goldenen Zwanziger
"Fabian" wird bis heute häufig im Theater inszeniert. Nach dem Tod Kästners, der sich zu Lebzeiten geweigert hatte, die Filmrechte zu verkaufen, hatte Wolf Gremm den Stoff 1980 bereits mit Hans-Peter Hallwachs in der Hauptrolle verfilmt. Dominik Graf führt nun durch prunkvolle Kulissen: die großen Berliner Altbauwohnungen, riesige Villen, das vom Bauhaus-Architekten Ludwig Mies van der Rohe entworfene Haus Lemke.
Graf setzt in seiner dreistündigen Adaption auf einen Off-Erzähler, teils rasante Schnitte und seltene Archivaufnahmen, er verfremdet, wählt plötzlich einen Splitscreen, dann Stilmittel des Stummfilms. Der Film ist nicht im heute gängigen Widescreen-, sondern im 4:3-Format gedreht, das die Älteren noch vom Röhrenfernseher kennen.
Hedonismus, Weltwirtschaftskrise, politische Zuspitzung: Die Motive sind bekannt, die Goldenen Zwanziger und besonders Erzählungen über das Ende der Weimarer Republik haben in den vergangenen Jahren eine überraschende Renaissance erlebt. Rainer Werner Fassbinders Serie "Berlin Alexanderplatz" nach einer Romanvorlage von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929 wurde digital überarbeitet, Tom Tykwers "Babylon Berlin" nach Volker Kutschers "Gereon Rath"-Buchreihe erhielt zahlreiche Fernseh- und Grimmepreise. Verlage legten Romane aus der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten neu auf, darunter Gabriele Tergits "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" von 1931 oder Ernst Haffners ungeschöntes Sittenbild "Blutsbrüder" von 1932, das so gar nichts von der oft vermittelten Romantik des Molochs der 1920er Jahre hat.
Auch die Vorlage von Grafs Film ist, genau genommen, recht aktuell. Erst 2013 war die Originalfassung von Kästners "Fabian" erschienen, unter dem vom Autor ursprünglich angedachten Titel "Der Gang vor die Hunde". Die Fassung von 1931 war als "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten" auf den Markt gekommen, etliche Szenen waren aus dem Manuskript gestrichen worden, um sowohl den Autor als auch den Verlag zu schützen - darunter nach heutigen Maßstäben eher harmlose sexuelle Anspielungen.
Selbst in seiner entschärften Fassung war der Roman den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge und Anlass, Kästners Werke als "undeutsche Literatur" zu deklarieren und 1933 zu verbrennen. Auch der von Kästner vorgeschlagene Titel wurde damals geändert, allzu offensichtlich war die Warnung, die der Schriftsteller damit zum Ausdruck bringen wollte. Dominik Graf stützt seine Verfilmung nun auf die Rekonstruktion von 2013 und nennt sein Werk "Fabian oder Der Gang vor die Hunde".
Parallelen zur Gegenwart
Dominik Graf lässt seine Adaption in der Gegenwart beginnen, in einer nicht zur eigentlichen Geschichte gehörenden Szenerie. Trotz der bald darauf gezeigten Kulissen, Wahlkampfplakate, Autos und Kleidung der Goldenen Zwanziger, sind die Parallelen zur Gegenwart offensichtlich: Wo ist der individuelle moralische Kompass, wo der gesellschaftliche Konsens?
Diese Fragen werden in ein sich politisch zuspitzendes Gesamtbild gebettet, in dem Demagogen und Demokratiefeinde längst nicht mehr nur Reden schwingen, sondern als rechtsextreme Terrorzellen oder vermeintliche Einzeltäter Menschen anderer Herkunft und unliebsame Politiker ermorden. Für ein "Wehret den Anfängen" ist es schon zu spät.
In einer Szene des Films verlassen die Protagonisten ein Wohnhaus, auf dem Bürgersteig stehen sie plötzlich auf einer ganzen Reihe von Stolpersteinen. Die erinnern erst seit 1992 an die Opfer des Nationalsozialismus, der zum Zeitpunkt der Filmhandlung noch bevorsteht. Am Ende geht Fabians Notizbuch erst in Flammen auf und schließlich unter - in einem Berg von brennenden Büchern.