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Literatur

Alfred Döblin: "Berlin Alexanderplatz"

Sabine Kieselbach
6. Oktober 2018

Ein Roman wie ein Bild, wie ein Film, wie ein Song. Der erste deutsche Großstadtroman. Und die Geschichte von einem, der immer wieder auf die Schnauze fliegt – bis er endlich kapiert.

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Alfred Döblin Porträt
Bild: picture alliance/akg-images

So einen kann man doch nicht mögen. Franz Biberkopf, frisch aus dem Knast, weil er seine Geliebte erschlagen hat. Eigentlich will er ab sofort anständig sein, aber er kriegt's nicht hin, lässt sich mit den falschen Leuten ein – Gaunern, Hehlern, Zuhältern. Und er schlägt gern mal zu, auch die Frauen an seiner Seite kriegen das zu spüren.  Wie also ist die atemberaubende Erfolgsgeschichte dieses Romans zu erklären, der sich gleich bei Erscheinen 1929 bestens verkaufte – und in den ersten vier Jahren bereits 50 Auflagen erreichte?

Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" erzählt von den Verlierern der Moderne, von denen, die nichts haben oder die ihr Weniges tapfer verteidigen müssen. Das Besondere: auch diesen "kleinen" Figuren, den gesellschaftlich ganz unten stehenden, wird ein differenziertes Unterbewusstsein zugestanden. Auch sie leiden – wie die "Großen" in der Weltliteratur.

Deutsches Reich Berlin Verkehrsstreik 1919, Alexanderplatz
Der Berliner Alexanderplatz 1919Bild: picture-alliance/akg-images

Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist aber außerdem der erste Roman, der sich ganz und gar der Großstadt verschreibt, dem Moloch Berlin. Die schillernde Kehrseite, das Berlin der Goldenen Zwanziger, finden wir in diesem Roman nicht.

Ein Buch wie ein Film

Die Bilder und Szenen in "Berlin Alexanderplatz" rauschen wie ein Film am Leser vorüber. Ständig wechseln die Perspektiven, alles wird aneinander montiert: Zeitungsschlagzeilen folgen auf Gesprächsfetzen folgen auf Liedtexte folgen auf Bibelzitate, die das Geschehen kommentieren.

"Verflucht ist der Mann, spricht Jeremia, der sich auf Menschen verlässt. Er gleicht einem Verlassenen auf der Steppe. Er weilt im Dürren auf salzigem Boden, der nicht bewohnt ist. Das Herz ist trügerisch und verderbt; wer mag es kennen?"

So hat bis dahin noch niemand in deutscher Sprache geschrieben, keine Frage: Mit "Berlin Alexanderplatz" hat Alfred Döblin den deutschen Roman revolutioniert. Das Buch wird heute in einem Atemzug mit Meisterwerken wie James Joyces "Ulysses" oder "Manhattan Transfer" von John dos Passos genannt.

Abgründe der menschlichen Seele

Fast alle Figuren des Romans sind Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft. Menschen wie die, mit denen Alfred Döblin in seiner Praxis als Nervenarzt tagtäglich zu tun hatte. Er kannte also die Abgründe der menschlichen Seele. Seine eigenen Abgründe, seine Leidenschaften und seinen Wunsch, gegen bürgerliche Normen aufzubegehren, lebte er beim Schreiben aus. Und das begann er schon früh, während seines Studiums der Medizin.

"Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin

Döblin – 1878 als Sohn assimilierter Juden in Stettin geboren – galt schnell als einer der innovativsten Autoren der literarischen Avantgarde. Einer, der keine Rücksicht nahm auf die Erwartungen seiner Leser, seines Verlegers, seiner Kritiker. Keiner Schule, keinem Stil wollte er treu bleiben. Ein eigensinniger, schwieriger Autor, ein "genialer Amokläufer", wie ihn der Kritiker Marcel Reich-Ranicki nannte.

Döblins Werk umfasst Lyrik, Erzählungen, Novellen, aber auch Essays und Theaterstücke. "Berlin Alexanderplatz" wurde nicht nur sein erfolgreichster Roman, er markiert auch einen Wendepunkt. Denn mit diesem Buch gelang Döblin auch der internationale Durchbruch. Bereits 1931 wurde die Geschichte erstmals verfilmt.

Franz und die Stadt

"Hier im Beginn verlässt Franz Biberkopf das Gefängnis Tegel, in das ihn ein früheres sinnloses Leben geführt hat. Er fasst in Berlin schwer wieder Fuß, aber schließlich gelingt es ihm doch, worüber er sich freut, und er tut nun den Schwur, anständig zu sein."

So fängt das Buch an. Franz hat seine Strafe wegen Totschlags verbüßt. Und eigentlich sieht es ganz gut für ihn aus. Die Freunde von früher sind ihm treu geblieben, er findet diverse kleine Jobs, und auch die Frauen mögen ihn. Dennoch gerät er unter die Räder, im wortwörtlichen Sinn, als er – ungewollt – an einem Einbruch teilnimmt, einen Arm und seine Geliebte verliert (diesmal ist er unschuldig), verhaftet und später freigelassen wird.

Sein Gegenpart ist: die Stadt Berlin. Nicht nur als Folie, sondern als Hauptfigur, als Handelnde, als Zentrum des Geschehens. Der Chor der vielen verschiedenen Stimmen, die Montage von Nachrichten, Werbetexten, Schlagertexten, Bibelversen, die Beschreibung des Menschengetümmels auf den Straßen,  der Gerüche und Geräusche, all das ergibt ein chaotisches Bild der sich rasend schnell verändernden Metropole. Und mittendrin Franz, überwältigt von alledem – und von seinen Sehnsüchten.

 "Und frisst sich satt und schläft sich aus, und am nächsten Tag auf der Straße denkt er: die möcht ich haben, und die möcht ich haben, aber geht an keine ran. Und die im Schaufenster, son draller Proppen, der könnte uns passen, aber ich geh an keine ran. Und hockt wieder in der Kneipe und sieht keiner ins Gesicht und frisst sich wieder satt und säuft. Jetzt werde ich die ganzen Tage nichts tun als fressen und saufen und schlafen, und das Leben ist aus für mich. Aus, aus."

Döblin als literarisches Vorbild

Alfred Döblin ist ein Wegbereiter der klassischen Moderne. Ohne "Berlin Alexanderplatz" sind viele Werke der deutschsprachigen Literatur gar nicht denkbar.

Verfilmung Berlin Alexanderplatz, von Alexander Döblin - Regie Piel Jutzi
Die Verfilmung von "Berlin Alexanderplatz" aus dem Jahr 1931, Regie Piel JutziBild: picture-alliance/akg-images

Schon zu seinen Lebzeiten drückten zahlreiche Kollegen ihre Bewunderung für den Schriftsteller aus (der diese Wertschätzung seinerseits selten erwiderte). Thomas Mann z. B., der den "großartig gelungenen Versuch" lobte, "die proletarische Wirklichkeit unserer Zeit in die Sphäre des Epischen zu heben".  Stefan Zweig bekannte, wie viel er von Döblin gelernt habe, und auch Günter Grass verstand sich als dessen Schüler und Nachfolger. Auch wenn Döblins "Alexanderplatz" heute Teil jedes deutschsprachigen Literaturkanons ist, wartet er vor allem bei jungen Lesern darauf, wiederentdeckt zu werden.

 

Alfred Döblin: "Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf" (1929), S. Fischer Verlag

Alfred Döblin (1878-1957) war praktizierender Psychiater, hat aber bereits während seines Studiums mit dem Schreiben begonnen. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen "Wallenstein", "Die drei Sprünge des Wang-lun" und "Berlin Alexanderplatz". Döblin verließ (als Jude und Sozialist doppelt bedroht) Deutschland wenige Tage nach der Machtergreifung Hitlers und floh über Frankreich in die USA. Er war einer der ersten Exilautoren, die nach dem Krieg nach Europa zurückkehrten.