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Flüchtlinge zeigen "ihr" Berlin

Ben Knight / ago8. Mai 2016

Geführte Stadtrundgänge zeigen die deutsche Hauptstadt aus besonderer Perspektive. Nun zeigen auch Flüchtlinge "ihr" Berlin - mit Sehenswürdigkeiten, die in keinem Reiseführer stehen. Ben Knight berichtet aus Berlin.

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Querstadtein-Führung durch Berlin-Neukölln - Foto: Ben Knight (DW)
Bild: DW/B. Knight

Auch wer erst sechs Monate in einer Stadt lebt, kann den Alteingesessenen durchaus Neues über ihren Wohnort erzählen. Die Eheleute Samer Serawan und Arij Oudeh kamen vergangenen November nach Berlin. Jetzt sind sie brandneue Touristenführer in der deutschen Hauptstadt. Bei ihren Führungen machen sie schnell deutlich, dass sie auch eingefleischten Berlinkennern noch eine Menge über den Stadtteil Neukölln beibringen können - einem der lautesten und am dichtesten besiedelten Bezirke der Stadt.

Stadtführer Samer Serawan und Arij Oudeh - Foto: Ben Knight (DW)
Stadtführer Serawan und Oudeh: Elf Tage anstehenBild: DW/B. Knight

An diesem Samstagnachmittag sind viele Menschen für ihre Wochenendeinkäufe unterwegs. Die Leute bahnen sich mit ihren Einkaufstaschen einen Weg durch die Touristengruppe. "Wie heißt diese Straße?", fragt Samer Serawan auf Englisch. "Sonnenallee", antwortet einer. So steht es auf dem Straßenschild.

"Für euch ist das die 'Sonnenallee'. Wir nennen sie die 'Arabische Straße'", sagt Samer Serawan. Die Alternativbezeichnung passt. Wer den Blick schweifen lässt, stellt fest, dass fast jeder Laden auf der Sonnenallee einen arabischen Namen hat. Deshalb werden viele syrische Flüchtlinge - oder "Neuankömmlinge", wie Serawan beharrlich sagt - von der "Arabischen Straße" wie magisch angezogen.

Arabische Waren im Regal

Samer Serawan und Arij Oudeh erzählen, dass sie hier einen Teil der 90 Euro ausgeben, die sie jeden Monat von der Stadt Berlin erhalten. Der Grund ist einfach: Hier stehen arabische Lebensmittel im Supermarktregal. Außerdem können die beiden mit den Verkäufern in ihrer Muttersprache reden.

Anbieter der Tour ist das Projekt Querstadtein. Die Touristenführer des Vereins sind Vertreter von Gruppen, über die zwar viel in den Medien berichtet wird, die aber kaum selbst zu Wort kommen. Bekannt wurde Querstadtein durch seine Kiezrundgänge, die von Obdachlosen geführt werden. Samer Serawan und Arij Oudeh sind die ersten Flüchtlingsguides.

Arabische Läden in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln - Foto: Ben Knight (DW)
Sonnenallee in Berlin-Neukölln: die "Arabische Straße"Bild: DW/B. Knight

Der zweistündige Rundgang kostet 6,50 Euro. Der Startpunkt ist zwischen einer Straßenbaustelle und einem Woolworth-Geschäft. In der Nähe zeigt Arij Oudeh auf "das beste arabische Restaurant in der Gegend". Damit meint sie eine unscheinbar wirkende Schawarma-Bude mit dem Namen "Shaam". Das Wort heißt Leber- oder Schönheitsfleck, erfahren die Touristen. Die Tour ist ganz nebenbei auch gut dafür, ein paar Brocken Arabisch zu lernen. An einer Stelle der Führung erhalten alle Teilnehmer eine Karte mit arabischen Begriffen, die sie den umliegenden Shops zuordnen sollen.

30 Tage von Damaskus nach Berlin

Unterwegs erzählen Oudeh und Serawan mithilfe einer Landkarte, wie ihre 30-tägige Odyssee von Damaskus nach Berlin ablief. Dazu gehörten der riskante Grenzübertritt in die Türkei und das Übersetzen mit dem Schlauchboot von Izmir auf eine griechische Insel. "Das Boot war für 17 Leute ausgelegt, aber 47 waren darauf", schildert Samer Serawan diesen Teil der Flucht. Anschließend schlugen sich die beiden auf der mittlerweile abgeriegelten Balkan-Route nach Deutschland durch.

Samer Serawan - Foto: Ben Knight (DW)
Flüchtling Serawan: Tour zu "Berlins berühmtesten Plätzen"Bild: DW/B. Knight

Sie berichten auch, warum sie nicht länger in Damaskus bleiben konnten. "Wir hatten ein ruhiges Leben", sagt Touristenführer Serawan. Das war, bevor 2011 der Krieg ausbrach. Beide haben Jura studiert. Serawan verdiente dann aber sein Geld als Manager einer Kakaofabrik. Nach fünf Jahren Bürgerkrieg hatte sich die Frontlinie zwischen seinen Wohnort und seine Arbeitsstätte geschoben. Damit verlor er seinen Lebensunterhalt. Ob die Fabrik überhaupt noch steht, kann er nicht sagen.

In Berlin musste das Paar mehrere Monate in den ehemaligen Hangars des geschlossenen Flughafens Tempelhof hausen - ihr Schlafbereich nur durch Stellwände von anderen getrennt. Die früheren Flughafengebäude waren vorübergehend in Massenunterkünfte verwandelt worden, als Berlin im vergangenen Jahr sehr schnell 80.000 Flüchtlinge aufnehmen musste. Etwa 50.000 sind noch in der Stadt. Später siedelten Oudeh und Serawan in eine Unterkunft in der Nähe des Wannsees um. Von dort ist es ziemlich weit bis zu den Supermärkten von Neukölln, aber die beiden haben jetzt immerhin einen eigenen Raum für sich.

Anstehen am Lageso

Auf dem Rundgang zeigt Samer Serawan die Bank, vor der er stundenlang für die Eröffnung eines Kontos anstehen musste, das Refugio-Café, in dem sich Flüchtlinge treffen und er erzählt vom berüchtigten Lageso. Vor dem "Landesamt für Gesundheit und Soziales" müssen Flüchtlinge oft Tage oder sogar Wochen für einen Gesprächstermin anstehen. Elf Tage waren es für Oudeh und Serawan.

Die lahmende Bürokratie hemmt den Integrationsprozess. Erst nach Monaten konnten die beiden einen Deutschkurs besuchen, sagt Samer Serawan. Aber er zeigt sich dennoch entschlossen: "Es ist sehr wichtig, dass wir schnell anfangen, uns zu integrieren. Wenn nicht, dann bekommen wir eine Gesellschaft in der Gesellschaft."

Für die Neuankömmlinge ist das Lageso eine zentrale Anlaufstelle. Flüchtlingstourguide Serawan zeigt der Gruppe eine laminierte Karte mit "Berlins berühmtesten Plätzen" - aus Sicht von Flüchtlingen. Darauf sind die Ausländerbehörde, der Herrmannplatz als Knotenpunkt in Neukölln und der Sitz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Spandau verzeichnet.

Für Flüchtlinge ist das BAMF der wichtigste Ort. Sie nennen es "das Gericht", sagt Samer Serawan. "Wir stellen uns vor, dass da ein Richter sitzt und mit ja oder nein' darüber entscheidet, wer in Deutschland bleiben darf und wer nicht.